Jetzt, wo wir alle Masken tragen, stellt sich die Frage, ob es eine tiefere kulturelle Bedeutung dafür gibt. Wenn man sich umsieht, stellt man fest, dass viele Menschen nicht mit einer hellblauen Maske, wie sie in Hospitälern getragen werden, zufrieden sind. Masken gibt es mittlerweile in allen möglichen Formen und Farben, die mehr sagen wollen, als nur „ich bin rücksichtsvoll“, auch wenn es dem Träger mehr um Mode, als um die Gesundheit seiner Mitmenschen geht. 

Rituelle Masken-Traditionen

Bedenkt man die Historie afrikanischer Ritualmasken oder alter europäischer Theatermasken, so kommt man zu dem Schluss, dass Covid-Masken irgendetwas mit Traditionen zu tun haben, die weit in die menschliche Frühgeschichte zurückreichen.

In Afrika (insbesondere in den westlichen Regionen) sind Masken Objekte mit tiefer religiöser, oder symbolischer Bedeutung. Einige Masken können verstorbene Vorfahren oder kraftvolle Geister darstellen. In nicht wenigen afrikanischen Traditionen gehören Masken zu Initiations-Zeremonien und Gottesdiensten, auch werden sie benutzt, um Menschen an die kulturellen Werte ihres Stammes zu erinnern. 

Masken wurden auch getragen, das Gesicht zu verdecken, oft in Verbindung mit einem Ganzkörper-Kostüm. Der Sinn war, dem Träger die Möglichkeit zu geben, sich in die Person dessen zu verwandeln, den die Maske darstellt. In Initiations-Zeremonien wurden die Teilnehmer angehalten, sich mit den Vorfahren und Geistern der Vorwelt zu verbinden.

Trug man eine Maske, so geschah dies nicht, die Identität einer Person zu verbergen, sondern diente dazu, Objekte zu manipulieren, die die verstorbenen Vorfahren herbeibeschwören sollten, damit sie Teil des Rituals würden. Rituelle Handlungen sollten die Teilnahme von Gottheiten, Geistern der Verstorbenen, mythologischen Gestalten und anderen Wesen, denen Macht über Menschen zugeschrieben wurde, versinnbildlichen.

Von Maske zu Person

Bei den alten Griechen war das Wort für Maske oder Vermummung prosopon. Im griechischen Theater verbargen die Schauspieler ihre Gesichter hinter Masken, nicht allein, um ihre wahre Identität zu verbergen –denn Schauspielerei galt immer als riskante Aufgabe, musste man doch in eine andere Person schlüpfen und die eigene verleugnen- sondern auch, um dem Publikum die Ernsthaftigkeit ihres Spiels zu zeigen.

Im Lateinischen wurde das Wort prosopon zu persona und bedeutet eigentlich in Literatur und Theater „das was man sehen kann“, also Gesicht, oder sichtbare Gestalt des Menschen. Im französischen stamm das Wort personne direkt von persona und bedeutet interessanterweise sowohl jemand, als auch niemand.

Irgendwo liegt also in diesen Traditionen von Masken und Menschen das Geheimnis der menschlichen Persönlichkeit verborgen; das Mysterium, dass eine Person sie selbst, aber auch gleichzeitig ein anderer Mensch sein kann. Allerdings ist dieses Paradox nur scheinbar, nicht real existierend.

Eine Maske kann sowohl verbergen, als auch enthüllen, jedoch nicht aus derselben Perspektive. Aus der Sicht des Publikums wird die Maske eines Supermanns in der Tat seine wahre Identität verhüllen. Aus der Perspektive des Supermanns und seiner Freunde oder Mitspieler enthüllen Masken und Kostüme ihre Identität mehr, als dass sie sie verbergen.

Jeder Fan von Spider Man und Iron Man, der sich je mit den Hintergrund-Stories seiner Schauspieler beschäftigt hat, weiß, wovon ich spreche. Ihre Masken und Kostüme enthüllen die vielfältigen Persönlichkeiten, die sie darstellen, verbergen jedoch viel mehr, als ihre wahren Gesichter es könnten.

Verbergen oder Aufdecken?

Was ich über Masken gesagt habe gilt ebenso für das menschliche Antlitz. Dieses hat nämlich auch die Fähigkeit, das innerste Denken eines Menschen zu enthüllen, oder zu verbergen. Das Antlitz ist eine Art Barriere zwischen den innersten Gefühlen eines Menschen und dem, was nach außen gezeigt wird. Jeder von uns hat die Fähigkeit zur Maskerade, also zur Entscheidung, ob das Gesicht die innersten Gefühle verhüllt, oder sie widerspiegelt.

Im ergötzlichen Märchen Des Kaisers neue Kleider von Hans Christian Andersen, lässt dieser die Verrücktheit einer überkomplizierten Welt durch die einfache, aber klare Sicht eines Kindes entlarven. Dieser zeitlose Klassiker, aber auch Märchen, wie Carol‘s Alice im Wunderland, oder St. Exupery’s Der kleine Prinz bieten gute Einsichten darüber, wie kompliziert wir sein können, wenn wir unsere kindliche Einfachheit aufgeben.

Andersen, Carol, St. Exupery, sie alle scheinen nahezulegen, dass das Heranwachsen die Menschen verkompliziert, möglicherweise durch Anlage „künstlicher Schichten der Sozialisation“, die es nicht schaffen, sich mit der Kindlichkeit zu verbinden, wodurch das Angesicht oder die persona wirklich zu einer Maske, einer Verhüllung, gerinnt und so die Person ihrer ursprünglichen Einfachheit beraubt.

Die Etymologien der Wörter simple (einfach) und complex können uns vielleicht helfen, das Paradox von Masken –künstlich oder natürlich- zu verstehen. Der Begriff simple (oder simplex) stammt vom lateinischen sine plicis und bedeutet ohne Plissees, Falten oder Knitter, während complex sich vom lateinischen  con plicis, also mit Plissees, oder Falten herleitet, was uns daran erinnert, dass wir in der Lage sind, die Realität so zu verbiegen, dass sie uns passt. Dies ist eine Fähigkeit, die wir durch das Unvermögen erworben haben, die oben erwähnten Schichten und Falten in unserem Wachstumsprozess mit der Identität zu harmonisieren, die uns bei der Geburt mitgegeben wurde. 

Der Verlust der Realität

Dieser Bruch zwischen äußerem Erscheinungsbild und innerer Realität ist typisch für eine modernistische Kultur. Der Fülle mentaler und psychischer Komplexe, an denen wir leiden, verdanken wir diesem Bruch.

Der Philosoph Immanuel Kant (1724-1804) untersuchte dies in seiner kategorischen Unterscheidung zwischen Phänomen und Gedachtem. Für Kant und seine Zeitgenossen gab es eine unüberbrückbare Kluft zwischen dem, was die Sinne erfassen und was Wirklichkeit ist. Einer Kluft zwischen der Empirie und dem Rationalen, eine Idee, die er wissentlich oder unwissentlich von seinem Wegbereiter René Descartes (1596-1650) übernahm, der sich dem Unterschied zwischen Körper (der res extensa) und Geist (der res cogitans) widmete. Gibt es keine Beziehung zwischen dem Externen und dem Internen, dem Antlitz und der inneren Haltung, dem äußerem Erscheinungsbild und der inneren Realität, dem Körper und der Seele, dann ist das, was wir Realität nennen, nichts anderes als Illusion, Täuschung …eine ausgeklügelte Farce.

Mehr noch, wenn diese Bereiche so hoffnungslos undurchdringlich sind, muss jede persönliche Begegnung zweier Individuen existentiell furchtbar sein, wie Jean-Paul Sartre in Geschlossene Gesellschaft darstellt. In diesem Roman beschreibt Sartre einen Mann, der hoffnungslos in die Enge getrieben ist. Sein Fazit: „Hölle, das sind die anderen Leute.“

Für Sartre, ist die Hölle kein Ort –es sind die anderen Leute. Wenn wir, egal, wohin wir uns wenden, statt einer Person, einem liebenswerten Antlitz, ein unbeschreibliches Wesen, eine Barriere, ein undurchdringliches Mysterium, ein groteskes Monster erblicken, so befinden wir uns buchstäblich in einer Geschlossenen Gesellschaft.

Undurchschaubarkeit

Sind wir vielleicht schon soweit in der derzeitigen Krise? Unbewusst könnten die chirurgischen Masken bereits eine phänomenologische Offenbarung sein, wie ideenlos die wissenschaftliche Welt bezüglich wahrer Menschlichkeit, künstlichen Symbolen und metaphysischer Tiefe erscheint -eine losgelöste Welt, indem man Symbole, einfach und freundschaftlich, wie etwa einen Handschlag, auf alle Fälle vermeiden muss.

Es ist eine Welt, in der innerliche psychologische Krankheiten nach außen auf nicht ermittelbare biologische Krankheiten projiziert werden. Es gibt in der Tat eine Krankheit, doch scheint ihre wahre Natur unterhalb der Wahrnehmungsschwelle unserer Skalpelle und Stethoskope zu liegen. 

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass alle Masken sowohl verhüllen als auch enthüllen – gleichzeitig, aber nicht in gleicher Weise. Indem sie unsere Gesichter verhüllen, enthüllen sie auch, wes Geistes Kinder wir geworden sind. 

Haben die Covid-Masken irgendetwas gemein mit afrikanischen Ritualmasken oder den europäischen Theatermasken? Einerseits ja, denn sie enthüllen, was aus uns geworden ist, doch nein, denn sie verleihen uns nicht die Fähigkeit, uns mit der Welt unserer Vorfahren zu verbinden. Ihnen fehlt die Fähigkeit, eine Brücke zu denen zu schlagen, die uns vorangegangen sind, damit sie an unseren Festen und Ritualen teilnehmen können.

Die Masken lassen auch auf kein Individuum schließen, wie das griechische prosopon, oder das Mysterium unseres inneren Superhelden, die angeborene Fähigkeit, Hauptfigur unseres Lebens zu sein. Kurz, so lange wir sie tragen müssen, werden die Masken eine eloquente phänomenologische Offenbarung gegenseitiger Undurchschaubarkeit von Personen des 21. Jahrhunderts sein.