Ein verbreitetes Vorurteil behauptet, die Kirche habe von Anfang an Feindschaft gegen die jüdische Religion und die Juden gepredigt, Vorurteile gefördert und Verfolgung gebilligt, und dieser kirchliche „Antijudaismus“ sei der Wegbereiter oder gar die eigentliche Ursache des modernen Antisemitismus gewesen, weshalb die Kirche irgendwie auch am Holocaust mitschuldig sei. Eine bizarre Verfälschung der Realität, die oft aus Unkenntnis, manchmal aber auch aus bewusster Verfälschung der Quellenlage erwächst.

Kirchenväter

Dazu werden oft aus Schriften einzelner Kirchenväter zusammenhanglos Aussagen zitiert, um zu belegen, dass Feindschaft gegen Juden aus der Lehre der Kirche stamme, während ganz anders lautende Aussagen derselben Autoren keine Erwähnung finden. Das ist ungefähr so, als zitiere man die berüchtigten antijüdischen Ausfälle Voltaires, um zu belegen, dass erst die Aufklärer des 18. Jh. den Hass auf Juden erfunden hätten.

In Wahrheit war unter den Kirchvätern eine wohlwollende Sicht auf das Judentum vorherrschend, von Origenes bis Augustinus und Papst Gregor dem Großen, der Ende des 6. Jh. auf der Grundlage des römischen Rechts umfangreiche Regeln zum Schutz der jüdischen Gemeinden erließ.

Auserwähltes Volk Gottes

Damit folgte er nicht einer persönlichen Liebhaberei, sondern der theologischen Grundüberzeugung der Kirche, dass die Juden als Gottes auserwähltes Volk noch eine heilsgeschichtliche Rolle zu spielen hätten, weshalb es Christenpflicht sei, sie zu schützen. Und für fast tausend Jahre war schon das allein ein wirksamer Schutz vor Verfolgung.

Der amerikanische Historiker Rodney Stark hat in einer akribischen Studie die Situation der Juden in Europa von 500 bis 1096 untersucht und nur einen einzigen Fall von Pogrom und Zwangkonversionen festgestellt, der zudem von einem anarchischen Mob verübt, von der Kirche aber streng verurteilt wurde. Zwangstaufen wurden grundsätzlich für ungültig erklärt; so ist es auch in der maßgeblichen kirchlichen Rechts-Sammlung des Codex Gratiani von 1140 festgehalten.

Gedankenaustausch

Zwischen christlichen und jüdischen Theologen gab es lange Zeit einen fruchtbaren und bewundernswert freien Gedankenaustausch. Die Schriften jüdischer Theologen und Philosophen wurden von Kirchenlehrern rezipiert und dankbar aufgenommen. So schätzte Thomas von Aquin das Werk des Moses Maimonides überaus hoch ein und zählte ihn zu den wichtigsten philosophischen Lehrern überhaupt.

Als Ende des 11. Jh. die bisherigen Schutzmechanismen ihre Wirksamkeit verloren und im Rheinland marodierende Banden Judenpogrome verübten, waren es die Bischöfe, die den Juden Schutz boten. Der jüdische Chronist Ephraim von Bonn berichtet Mitte des 12. Jh. voller Dankbarkeit darüber, dass Abt Bernhard von Clairvaux sich eilig auf den Weg machte, um den Juden zu Hilfe zu eilen und den häretischen Hasspredigern entgegenzutreten, wodurch tatsächlich viele Verfolgte gerettet wurden.

Schutz der Juden

Papst Clemens IV. erließ eine scharf formulierte Bulle, in der er alle Geistlichen und Bischöfe anwies, sich schützend vor die Juden zu stellen und jedem, der Gerüchte wie Brunnenvergiftung, Ritualmord o.dgl. über sie verbreitete, mit Exkommunikation drohte.

Die Zunahme von Pogromen bewog die Päpste dazu, sich der Ausbreitung des Judenhasses verstärkt entgegen zu stellen. Von Calixt II. (1124) an erließ über vierhundert Jahre jeder Papst ein eigenes Dekret zum Schutz der Juden, die sog. „Sicut-Judaeis-Bullen“. Die Stimme des Lehramtes wurde leider allzu oft nicht gehört oder missachtet. Es kann aber ganz offensichtlich keine Rede davon sein, dass Judenhass ausgerechnet ein Produkt der Kirche gewesen sei. Und der im 19 Jh. entstandene vulgärdarwinistische, „rassische“ Antisemitismus war eine der Kirche offen widersprechende, explizit antichristliche Ideologie, die sich auf viele Vorurteile stützen konnte, nicht aber auf kirchliche Lehre.