Die vierte Kardinaltugend wird in der deutschsprachigen philosophischen Tradition gewöhnlich „Maß“, „Maßhalten“, bzw. „Zucht und Maß“[1] genannt. Nach Klugheit, Gerechtigkeit und Tapferkeit überrascht uns heutige Leser ein wenig, dass die letzte Tugend in dieser erlesenen Reihe nun scheinbar eine passive zu sein scheint: „Maß“, womöglich gar „Zucht“ – klingt das nicht nach bloßem Begrenzen, Einhegen, Beschränken? Ein wenig freudlos, trist sogar, zumal im Gegensatz zu den irgendwie pro-aktiver klingenden drei ersten Kardinaltugenden…
Haben wir es womöglich mit einer hausbackenen, altmodischen und „uncoolen“ Sache zu tun, die uns nur in unserer Selbstverwirklichung hemmen will? Um diesen ganz und gar falschen Eindruck erst gar nicht aufkommen zu lassen, übersetze ich hier den Begriff mit Besonnenheit, was dem eigentlich Gemeinten recht nahe kommt. Wer besonnen handelt, im ursprünglichen Wortsinne, der zeigt in seinem Tun, dass er sich von Umsicht, Selbstkontrolle und vernünftiger Verantwortlichkeit leiten lässt.
Die rechte Temperatur des Lebens
In der Philosophie wird diese Tugend mit dem lateinischen Wort „temperantia“ bezeichnet. Das zugehörige Verb temperare hat primär keineswegs einen passiven Sinn, sondern einen höchst aktiven; es bedeutet nicht nur mäßigen, zurückhalten, beherrschen, sondern ebenso etwas aktiv in das gehörige Maß setzen bzw. aus verschiedenen Teilen zusammenfügen.[2] Auch ein uns sogleich vertraut klingendes Wort wie temperamentum enthält diesen ursprünglichen Sinn: Das richtige Verhältnis gemischter Dinge herstellen, die gehörige Mischung schaffen[3].
Ebenso verhält es sich mit der temperatura, der richtigen Vermischung, Zubereitung, Beschaffenheit[4]. Die Tugend der Besonnenheit und des „Maßes“ gibt gewissermaßen unserem Leben die richtige Temperatur. Im kosmischen Maßstab hat der Mensch eine extrem schmale Bandbreite von Bedingungen, unter denen er leben kann; das gilt ganz besonders für die Temperatur. Mit dem Zwischenmenschlichen verhält es sich ganz ähnlich: Wenn die rechte temperatura nicht stimmt, dann ist kein gutes Leben möglich, sondern wir stürzen in die Kälte der Isolation oder versengen uns an der Hitze der Feindseligkeit und des Egoismus.
Nichts geht ohne Maß und Verstand
Die griechischen Philosophie benannte die Tugend, um die es hier geht, mit dem Wort Sophrosýne(σωφροσύνη), was sowohl Vernünftigkeit, geistige Gesundheit bezeichnet, als auch Besonnenheit und Selbstbeherrschung[5]. Maß halten[6] ist eben keine aufgezwungene übertriebene Askese, keine unwillkommene Knechtung freien Willens, sondern vielmehr die Voraussetzung für gelingendes Leben und als solche elementar vernünftig. Schon der griechischen Philosophie war klar: Maßlosigkeit ist Unverstand, geradezu eine Art Krankheit des Gemüts.
Besonnen zu handeln und das rechte Maß zu wahren ist mehr als ein gutbürgerliches „juste milieu“ oder gar die furchtsame Suche nach einem „Mittelweg“. Die Tugend der Besonnenheit zielt vielmehr auf die Herstellung, Bewahrung (oder Wiederherstellung) der rechten und gerechten, der klugen und angemessenen Ordnung. Sie führt zu innerer Ruhe (quies animi[7]) und Gelassenheit, sie schützt den Menschen vor selbstzerstörerischen Neigungen und Verirrungen.
Selbstlose Selbstbewahrung
Von den anderen Kardinaltugenden unterscheidet sich die Besonnenheit u.a. dadurch, dass sie „ausschließlich auf den Wirkenden selbst bezogen ist“[8]; sie ist Voraussetzung für gelingendes Leben, dient seinem Erhalt und Schutz. Aber sie zielt auf eine „selbstlose Selbstbewahrung“[9]; das heißt sie bewahrt den Menschen davor, sich in sich selbst zu verkrümmen[10], nur um sich selbst zu kreisen und dadurch unglücklich zu werden.
Diese Tugend hilft mir also beim inneren Aufräumen, bei der richtigen Priorisierung dessen, was mich beschäftigt, was mich umtreibt und antreibt, was mich beunruhigt, was ich begehre und was ich fürchte. Dies alles in die richtige Ordnung zu bringen ist aber nicht nur innere Psychohygiene, sondern es ist tugendhaft, weil ich erst dadurch überhaupt fähig werde, auch die Bedürfnisse der Anderen, meiner Mitmenschen, wahrzunehmen und ernstzunehmen.
Keine moralische Spaßbremse
Mir scheint, als sei Besonnenheit, die Tugend des rechten Maßes, heute geradezu die nötigste von allen! Schon bei kurzem Nachdenken fallen uns zahlreiche Beispiele ein, die belegen, dass am Grunde vieler Übel unserer Zeit gerade der Mangel des Maßhaltens, der rechten vernunftmäßigen Ordnung, ein Mangel an Selbstkontrolle und eine Neigung zu maßlosem Verhalten zu finden ist. Als Erstes fallen uns vermutlich diverse Formen der Sucht ein, Tablettensucht, Alkoholismus, Zigaretten, harte Drogen, aber auch Spiel-Sucht oder Pornographie-Besessenheit.
Im politischen Raum denken wir an wuchernde Ideologien und wirre Verschwörungstheorien, an Gewalt, Terror, Ausschreitungen, offenes Randalieren. Auch im persönlichen Umfeld, am Arbeitsplatz, im Freundeskreis und sogar in der Familie stoßen wir schnell auf Beispiele, wo das Fehlen des rechten Maßes zu Konflikt, Streit und Unglück führt.
Die Freuden des Lebens genießen kann außerdem nur, wer sich des rechten Maßes bewusst ist. Es fängt beim Genuss eines guten Weines an, eine Freude, die keinem Alkoholiker mehr zugänglich ist, und reicht bis zur Sexualität, deren Schönheit einem Pornosüchtigen ebenso verschlossen bleibt, wie einem hemmungslos Promiskuität auslebenden Casanova. Ein verbreiteter Irrtum und Denkfehler ist übrigens die Annahme, die christliche Sexualmoral sei leibfeindlich, irgendwie gegen das Körperliche gerichtet.
Schon Thomas von Aquin bekämpfte die Irrlehre der Leibfeindlichkeit und der Spaltung des menschlichen Wesens in einen vermeintlich allein guten geistigen und einen angeblich schlechten leiblichen Teil. Man findet bei ihm verblüffende Aussagen zum Wert und zur Schönheit recht gelebter Geschlechtlichkeit[11]. Besonnenheit und Maß enthalten Elemente von Askese, haben aber nichts gemein mit Prüderie und Verklemmtheit.
Maß nehmen – woran?
Nach dem weiten Bogen, den wir von der antiken Philosophie bis in unsere Lebenswirklichkeit geschlagen haben, könnte jetzt leicht der Eindruck aufkommen, wir wären am Ende bei banalen Kalenderweisheiten gelandet. Aber hinter dem rechten „Maß“ steckt mehr als nur schlichte und letztlich subjektive Empirie – die ließe sich allzu leicht im Sinne eines irreführenden „Mittelwegs“ missbrauchen[12]. Ohne die transzendente Verankerung – das haben wir bei allen Kardinaltugenden gesehen – hält das ganze Tugendgebäude nicht.
Nur wenn das Maß aller Dinge nicht die Laune oder die subjektive Befindlichkeit des Menschen ist, sondern seine Berufung als Geschöpf Gottes, wenn also der menschlichen Natur in ihrer Ganzheit Gerechtigkeit widerfährt, nur dann stimmen die Maße, und wir können uns aus der schmerzhaften Verkrümmung in unsere Idiosynkrasien lösen und aufrichten.
Im Neuen Testament gibt es eine Stelle, die sich besonders gut eignet, um zu zeigen, was hier gemeint ist: „Gott hat uns nicht einen Geist der Verzagtheit gegeben, sondern den Geist der Kraft, der Liebe und der Besonnenheit[13]“ (2 Tim. 1,7). Hier wird besonders schön deutlich, dass ein Leben gemäß den Kardinaltugenden nicht Verzicht oder Belastung bedeutet, sondern im Gegenteil Befreiung und Gelassenheit.
Anmerkungen
[1]Vgl. hierzu Josef Pieper: Das Viergespann. Klugheit-Gerechtigkeit-Tapferkeit-Maß. München 1964. S. 201-205. Pieper entwickelt überzeugend die Ethymologie und Konnotation der verschiedenen möglichen Übersetzungen von „Temperantia“ ins Deutsche und entscheidet sich mit guten Gründen für das Wortpaar „Zucht und Maß“. Der seitherige Bedeutungs- und Verständniswandel macht jedoch zumindest den Begriff „Zucht“ heute schwer vermittelbar.
[2]Karl Ernst Georges: Ausführliches lateinisch-deutsches Handwörterbuch. Bd. 2. Darmstadt 1995. Sp. 3046
Vgl. a. Pieper, a.a.O. S. 204.
[3]Georges, a.a.O. Sp. 3044.
[4]Ebd. Sp. 3045.
[5]Walter Bauer: Griechisch-deutsches Wörterbuch zum Neuen Testament. 5. Aufl., Berlin /New York 1971. Sp.1588.
[6]Sprachgeschichtlich kommt auch das deutsche Wort „Maß“ im ursprünglichen Verständnis den Begriffen Temperantia und Sophrosyne sehr nahe. Es ist keinesfalls eingeschränkt auf bestimmte, heute primär mitgedachte Konnotationen wie “Mäßigkeit“ beim Essen oder „Mäßigung“ in Äußerungen.
[7]Thomas von Aquin. Vgl. Pieper a.a.O. S. 206.
[8]Pieper, a.a.O. S. 207.
[9]Ebd.
[10]Diese Formel vom „in sich verkrümmten Menschen“ (homo incurvatus in se ipsum) geht auf Augustinus und Thomas von Aquin zurück und bezeichnet den Menschen, der nur sich selbst sieht, rein weltlich, materialistisch denkt und die Verbindung zu Gott verloren oder bewusst durchtrennt hat.
[11]Vgl. Pieper, a.a.O. S. 214f. Zum Thema grundlegend: Karol Wojtyla (Johannes Paul II.): Liebe und Verantwortung. Eine ethische Studie.2. Aufl. 2010.
[12]So geschieht es häufig, wenn ein angebliches rechtes Maß bei in sich schlechten Verhaltensweisen als Ausrede verwendet wird, neuerdings z.B. in der gefährlich irreführenden Propagierung von „Mikro-Dosierung“ von Aufputschmitteln und anderen Drogen.
[13]„Besonnenheit“ ist hier die Übersetzung des altgriechischen Wortes Sophronismós (σωφρονισμός), was ethymologisch sehr nah bei Sophrosýne liegt (vgl. Anm. 5).