Die Corona-Krise hat den inneren Sprengstoff, vielleicht sogar unser Bildungswesen wesentlich zu verändern. Was heute für viele Schüler als Notbehelf erscheint, könnte künftig – wie in vielen anderen Ländern – zu einer von Eltern gewünschten Alternative werden.

Denn bisher ist in Deutschland „Homeschooling“ verboten und Eltern, die ihre Kinder nicht in eine staatlich zugelassene Schule schicken, müssen mit erheblichen Sanktionen bis hin zu Gefängnisstrafen rechnen. Die durch die Corona-Krise von vielen Eltern mit der „virtuellen Schule“ und dem häuslichen Lernen gemachte Erfahrung kann zu einer Neubewertung und fundierten Auseinandersetzung mit bestimmten Aspekte des homeschooling auch in Deutschland führen.

In vielen anderen Ländern wächst weltweit die Zahl der „Homeschooler“. Ein Blick auf die Geschichte und die Vielfalt für diese anwachsende Bewegung in den USA, wo inzwischen ca. 2 Millionen Schüler zu Hause unterrichtet werden, lässt die Hauptgründe für diese Entwicklung, die es auch in vielen europäischen Ländern gibt, erkennen.

(von Kyle Greenwalt – ins Deutsche übertragen von Horst Niederehe)

Homeschooling in den USA

Die Zahl der Kinder, die zu Hause beschult werden, wächst in Amerika beständig. Neueste Statistiken belegen, dass im Jahr 2007 1.5 Mio Kinder in den USA zu Hause unterrichtet wurden. Dies bedeutet eine deutliche Steigerung zu 1,1 Mio Kindern in 2003 und 850,000 in 1999.

Die „Homeschooling“-Bewegung entstand in den 1980er Jahren in den USA. Sie wurde damals von Evangelikalen Christen betrieben, doch hat sich im Lauf der Zeit des Wachstums auch ihr Profil verändert. Heute suchen Familien, die ihre Kinder zu Hause unterrichten, durchaus die Kooperation mit den Schulen am Ort. In meinen eigenen Untersuchungen konnte ich feststellen, wie unterschiedlich heute die Homeschoolers daherkommen. Ihre Vielfalt stellt jede vereinfachende Auffassung von Hausunterricht und seine Auswirkungen auf das öffentliche Schulsystem zur Disposition. Wie also lässt sich diese Entwicklung im amerikanischen Bildungssystem einordnen?

Frühe Trends

Bis ins späte 19. Jahrhundert war Hausunterricht gang und gäbe. Die Mehrzahl der Kinder bekam einen substantiellen Teil ihrer Bildung zu Hause. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts erließen die Staaten Gesetze zur Schulpflicht. Diese verpflichteten alle Kinder, eine öffentliche, oder -alternativ- eine private Schule zu besuchen. So wurde Erziehung außerhalb des Elternhauses für sie zur Norm.

In den 1970ern trat der amerikanische Lehrer John Holt als Vorreiter des Homeschoolings auf. Er kritisierte die Auffassung, dass das öffentliche Schulwesen den Kindern die besten Voraussetzungen zum Lernen biete. Nach und nach begannen dann kleinere Gruppen von Eltern, ihre Kinder aus öffentlichen Schulen abzumelden.

In den 1980ern traten die Homeschooler bereits als öffentliche Bewegung auf. In diesem Jahrzehnt legalisierten 20 Staaten den Hausunterricht. Der Kampf, diesen zuzulassen, wurde in erster Linie von Evangelikalen Christen betrieben. Organisationen, wie die „Home School Legal Defense Association“, die 1983 gegründet wurde, sorgten für die nötige legale und finanzielle Unterstützung der Familien.

Zu dieser Zeit sah man Homeschooling in Konflikt mit dem weltlichen Schulsystem. Religiöse Familien bildeten das Gesicht des Homeschoolings.

Gründe für Hausunterricht

Heute ist Homeschooling in den USA eine akzeptierte Alternative zur öffentlichen Schule. Es ist in allen 50 Staaten legal. Hinzu kommt, dass eine wachsende Anzahl von Staaten versuchen, die Gruppe der zu Hause unterrichteten Kinder zu teilzeitlichen Aktivitäten zu ermuntern. So untersagen 28 Staaten nicht mehr die Teilnahme dieser Schüler an Schulsport und 15 Staaten überlegen die Anwendung des sogen. “Tim Tebow Laws”, benannt nach einem bekannten Sportler, der zu Hause beschult wurde, wodurch Homeschoolers Zugang zu Schulsport-Teams ermöglicht würde.

Mittlerweile ist die Homeschool-Bewegung sehr heterogen. Die Soziologen Philip Q. Yang und Nihan Kayaardi belegen, dass die Population der Homeschooler sich nicht besonders vom Durchschnitt der US-amerkanischen Bevölkerung unterscheidet. Mit anderen Worten: Man kann bei Homeschooling-Familien keine Rückschlüsse mehr auf ihre religiösen und politischen Präferenzen oder ihren finanziellen Status ziehen.

Daten des National Center for Educational Statistics (NCES) erhärten diese Aussage. 2008 ermittelte das NCES, dass nur 36% der Homeschooling-Familien in einer Untersuchung als Hauptgrund ihrer Wahl angaben: „Wunsch nach religiöser und moralischer Unterweisung“. Andere Gründe, wie z.B. die Sorge um das schulische Klima, waren ebenso bedeutsam für die Entscheidung zum Hausunterricht

Eine neue Generation zu Hause unterrichteter Kinder

Was also sind die Gründe für die Zunahme des Homeschoolings?

Meine Forschungen zeigen, dass diese, zumindest teilweise, durch Änderungen im öffentlichen Schulsystem forciert wurden. So hat beispielsweise die fortschreitende Kommunikationstechnik zur Einrichtung von Online charter schools geführt, die mit ihren Schülern online kommunizieren.

Dies bedeutet, dass mehr Schüler zu Hause auf Kosten der Allgemeinheit unterrichtet werden. Kalifornien, Ohio und Pennsylvania haben den Weg gewiesen. 2006, schätzte man, dass 11% der Privatschulen in Pennsylvania online Unterricht anboten. Bemerkenswert dabei ist, dass 60% der Schüler in diesen Schulen vorher zu Hause unterrichtet wurden.

Homeschoolers in Staaten wie Michigan haben Zugang zu schulübergreifenden Sportveranstaltungen und dürfen auch an bestimmten schulischen Angeboten teilnehmen. Sie können sich beispielsweise entscheiden, die Schule in Teilzeit zu besuchen und an Qualifizierungskursen in jedem Fach teilzunehmen. Diese Kurse sind sehr populär, denn sie erlauben dem Schüler Punkte für den Zugang zur Universität bereits im Gymnasium zu sammeln.

Profilwechsel bei den Homeschoolers

Diskussionen, ob Homeschooling gut für Kinder ist, können manchmal emotionsgeladen sein. Manche Wissenschaftler sehen die wachsende Zahl der Homeschoolers kritisch, andere dagegen differenzierter.

Letztere glauben, dass zu Haus unterrichtende Eltern sich einfühlsamer auf die individuellen Bedürfnisse und Interessen eines Kindes einstellen können. Sie ziehen oft auch Vorteile durch Lernerfahrungen, die sie im Haus und in der Gemeinde machen.

In meiner eigenen Arbeit als Lehrer bin ich oft Eltern begegnet, die nicht ausschließlich aus religiösen Gründen ihre Kinder zu Hause unterrichten wollten. Darunter sind zwei meiner Kollegen im Lehramt. Die Gründe der Eltern reichen von Allergien, besonderen Bedürfnissen, Rassismus bis hin zum Wunsch nach speziellen Ausbildungszielen, wie Sport oder Kunst.

Angesichts dieser Entwicklungen wird es wirklich Zeit für die Verantwortlichen im Bildungswesen und Politiker, die sich so sehr eine Verbesserung elterlicher Teilhabe wünschen, neu abzuwägen, wer und was die Homeschooling-Bewegung heute ausmacht.


Kyle Greenwalt, Außerordentlicher Professor an der Michigan State University.

Der Beitrag wurde zuerst in The Conversation publiziert. Hier der original article.