Einer der erfolgreichsten Filme des Jahres 2023, „Die Schneegesellschaft“[1], schildert auf spannende und zugleich einfühlsame Weise das Schicksal von Überlebenden eines Flugzeugabsturzes in den Anden, die in der quasi sterilen Eis- und Schnee-Einsamkeit des Hochgebirges nur dadurch überleben, dass sie sich von toten Körpern anderer Passagiere ernähren. Die wahre Geschichte dahinter ist der Absturz eines uruguayischen Flugzeugs im Jahre 1972. Die Überlebenden, fast alle Angehörige einer jugendlichen Rugby-Mannschaft, mussten 72 Tage bis zu ihrer Rettung überstehen. Das Thema Kannibalismus steht quasi ständig im Raum; doch verzichtet der Film auf drastische Bilder und beschränkt sich so weit wie möglich auf Andeutungen. Aber wie ist das Thema ethisch zu beurteilen?

Das Unausweichliche annehmen?

Nach Aussagen eines der tatsächlichen Überlebenden des Absturzes reifte der Gedanke, von den Körpern der toten Passagiere zu essen, ganz langsam heran, als die Aussicht des sicheren Hungertodes immer unabweislicher wurde. Das Zögern überrascht wenig; schließlich ist das Essen von Menschenfleisch ein Tabu, das in fast allen, auch noch so permissiven Gesellschaften fortbesteht. Die zu überwindende Hemmschwelle ist hoch. Der Film spiegelt das anschaulich wider. Einige Überlebende scheinen schnell dazu entschlossen, „das Nötige“ zu tun. Andere sträuben sich anhaltend und müssen Mal um Mal überredet werden.

Ein beklemmender Gedanke

Kannibalismus  ist und bleibt ein heikles und abstoßendes Thema. Obwohl ritueller Kannibalismus in nicht wenigen indigenen Gesellschaften historisch belegt und dokumentiert ist, wurde dessen Existenz sogar schon rundweg abgestritten, weil man hinter dem Begriff (zu Unrecht) eine „kolonialistische“ Gesinnung witterte. Hier aber geht es ohnehin nicht um Rituale und Aberglauben, sondern um eine Art ultima ratio im Kampf ums Überleben.

Und diese Art der „Anthropophagie“[2] kommt nicht nur in Fällen von Flugzeugabstürzen oder Schiffsuntergängen vor. Es gibt auch wahrhaft haarsträubende Berichte über massenhaften Kannibalismus in Fällen extremer Hungersnöte. Solche sind zum Beispiel aus der Sowjetunion der dreißiger Jahren des 20. Jh. belegt, als Stalin mit einem eiskalt berechneten Mordprogramm Millionen von Ukrainern in den Hungertod trieb[3]. In einem Teil Chinas soll es, in seltenen, aber historisch dokumentierten Fällen lang anhaltender Hungersnot sogar zu einer Art Handel mit Menschenfleisch gekommen sein.

Offizieller Trailer

Moraltheologische Grauzone?

Angesichts des sicheren Hungertods sind Ekel, Hygiene und Gesundheitsrisiken irgendwann überwunden. Ebenso die Pietät gegenüber den toten Körpern Fremder. Was bleibt ist die grundlegende Frage: darf man das?

Aus gutem Grund gibt es dazu keine schnelle und immer passende Antwort. Den Überlebenden des uruguayischen Unglücksfluges wurden kaum Vorwürfe gemacht. Die Extremsituation war so eindeutig und die Motivation der Betreffenden so unverdächtig, dass auch aus kirchlicher Sicht keine intrinsisch verwerfliche Tat vorlag.

Der Film streift das moralische Dilemma mehr, als dass er es abhandelte. Die Hemmungen der handelnden Personen werden als solche dargestellt, theologisch-moralische Erwägungen finden aber kaum statt. Es wäre vielleicht angebracht gewesen, diese etwas zu vertiefen. Ein seltsames Detail hätte dazu Anlass geben können: Das echte Rugby-Team aus Montevideo an Bord des Unglücks-Flugzeuges gehörte einem Traditionsclub mit dem Namen „Old Christians“ an…

Zur Klärung der moralischen Entscheidungsfrage „darf man das?“ mag es helfen, bestimmte bioethische Dilemmata zum Vergleich heranzuziehen – gewissermaßen auf der Suche nach einem tertium comparationis, aus heuristischem Interesse.

Ultimative Organspende?

So kann man vergleichend Organspenden betrachten. Auch in diesen Fällen wird ja der Körper eines Verstorbenen genutzt, um einem anderen das Weiterleben zu ermöglichen. Bei genauerer Betrachtung stellt man aber fest, dass die Vergleichbarkeit beschränkt ist. Das moralische Dilemma bei der Organentnahme ist es ja gerade, dass die Frage des tatsächlichen Todes des Spenders notwendigerweise in einer Grauzone bleibt: Organe einer Leiche sind für die Transplantationsmedizin in der Regel unbrauchbar; ist aber ein Hirntoter[4] wirklich tot – bzw. ab wann? Und wie wird das definiert? Wir stellen überrascht fest, dass Anthropophagie in extremis moralisch gesehen weniger problematisch zu sein scheint als Organentnahme aus Koma-Patienten.

Schlag nach bei Schiller?

„Das Leben ist der Güter höchstes nicht. Der Übel größtes aber ist die Schuld“… Dieses denkwürdige Zitat von Friedrich Schiller[5] lenkt den Blick auf die Tatsache, dass es Werte gibt, die wir auch im Falle der unmittelbaren Bedrohung unseres Lebens nicht aufgeben können. Und hier interessiert uns ja gerade die Frage, ob das im Falle der hungernden Katastrophenopfer anwendbar sein könnte. Bis zu welchem Grade heiligt der Zweck die Mittel? Das in dem Film „Die Schneegesellschaft“ mehrfach vorkommende Motiv der vorherigen Zustimmung Sterbender zur Kannibalisierung ihrer Körper führt nicht wirklich weiter[6], weil es die Sache bestenfalls graduell verändert (etwas mehr Pietät…).

Das Ende des Gradualismus[7]

Ein anderer Vergleich kann zur Klärung helfen. Gelegentlich liest man von Fällen, in denen arme, ausgebeutete Familien, vor allem in Entwicklungsländern, ihre Kinder verkaufen, um dadurch „das Überleben der Familie zu sichern“, wie es oft gedankenlos utilitaristisch in entsprechenden Medienberichten heißt.

Täuschen wir uns nicht: Auch wenn darüber selten in den  Medien berichtet wird, handelt es sich doch um eine riesige Zahl von Fällen. Es kommt viele tausende Male häufiger vor, dass Arme ihre unmündigen Töchter in die Prostitution verkaufen, als dass Überlebende von Katastrophen zu Kannibalen werden. Das Letztere ist ein seltenes Randphänomen, das Erstere eine weltweite Plage.

Und hier ist die Entscheidung ganz eindeutig: Nein, es ist niemals gerechtfertigt ein Kind in die Sklaverei zu verkaufen! Selbst nicht im Falle unmittelbarer Bedrohung des eigenen Lebens. Hier handelt es sich um eine in sich böse Tat, die niemals durch Nützlichkeitserwägungen in Notsituationen – und seien sie auch noch so schwerwiegend – gerechtfertigt werden kann.

Weiter in der Grauzone

Gemessen daran scheint der Fall der anthropophagen Absturzopfer klar diesseits der Grenze des in Extremsituationen noch Zulässigen zu sein: Das Tabu wird nicht grundsätzlich in Frage gestellt; schon die natürliche Abwehrreaktion normaler Menschen verhindert eine Banalisierung. Pietät Verstorbenen gegenüber hat einen hohen Wert, kann aber zurücktreten, wenn es buchstäblich um Leben und Tod anderer geht.

Dennoch wird es keine einfache Formel für alle vergleichbaren Fälle geben. Aus gutem Grund kann nur im Einzelfall entschieden werden. Wäre es anders, liefen wir sehr schnell Gefahr, dass ein kalter Utilitarismus sich des Themas bemächtigt. Eine solche Entwicklung bzw. deren Ergebnis präsentiert auf gespenstische (natürlich gänzlich fiktive) Weise der berühmte Film „Soylent Green“[8], in dem in einer dystopischen Zukunft mit menschlichen Körpern ein makaberes Recycling betrieben wird.

Nun ist eine reale Entwicklung hin zu einer geschäftsmäßigen Verwertung menschlicher Körper absurd und unwahrscheinlich. Doch sollten uns bedenkliche bioethische Entwicklungen unserer Zeit eine Warnung sein; was heute undenkbar scheint, wird es vielleicht nicht immer bleiben. Pragmatische General- bzw. Ausnahme-Klauseln kann es schon deshalb bei bioethischen Fragen nicht geben.


[1]Originaltitel: „La Sociedad de la nieve“. 2023. Regie J.A. Bayona. Basiert auf dem gleichnamigen Roman von Pablo Vierci.

[2]Griechisch für „Menschenfresserei“. In der Forschung auch statt des Begriffes Kannibalismus verwendet.

[3]Ein Genozid, der heute unter dem Namen „Holodomor“ bekannt ist. Vgl. dazu u.a. den eindrucksvollen Film „Mr. Jones“ von Agniezska Holland (2019).

[4]Vgl. hierzu: Wolfgang Waldstein. Ins Herz geschrieben. Das Naturrecht als Fundament einer menschlichen Gesellschaft. Augsburg 2010. S. 81 ff.

[5]Aus „Die Braut von Messina“ (IV, 10; Chor).

[6]Ähnlich wie bei der (bei uns noch verbindlichen) vorherigen Zustimmung zur Organentnahme.

[7]Moraltheologische Auffassung, die keine „in sich“ bösen Taten anerkennt.

[8]Amerikanischer Film von 1973, Regie Richard Fleischer. Mit Charlton Heston und Edward G. Robinson in Hauptrollen.