(Foto: NFP)

Filmische Qualität:   4,5 / 5
Regie:Sherry Hormann
Darsteller:Almila Bagriacik, Meral Perin, Rauand Taleb, Armin Wahedi, Mürtüz Yolcu, Mehmet Atesci, Aram Arami, Merve Aksoy, Jacob Matschenz, Idil Üner
Land, Jahr:Deutschland 2019
Laufzeit:90 Minuten
Genre:
Publikum:ab 12 Jahren
Einschränkungen:Gewalttätige Szenen, Szenen mit offenkundig erotisierender Absicht
im Kino:5/2019
Auf DVD:11/2019

Mitten in Berlin: Aynur (Almila Bagriacik) geht ihrem jüngsten Bruder Nuri (Rauand Taleb) ein paar Schritte voraus. Er wollte sie ja unbedingt bis zur Bushaltestelle begleiten. Plötzlich holt der junge Mann eine Pistole aus der Tasche heraus, und zielt damit auf den Kopf seiner Schwester.

Nuri feuert dreimal auf Aynur, die mitten auf der Straße liegen bleibt. Mit dieser eindrücklichen Szene lassen Drehbuchautor Florian Oeller und Regisseurin Sherry Hormann ihren Spielfilm „Nur eine Frau“ beginnen. Darin zeichnet der über weite Strecken dokumentarisch anmutende Spielfilm tatsachengetreu das Schicksal von Hatun Sürücü nach, die sich selbst den Namen Aynur („Mondstrahl“) gab, und am 7. Februar 2005 in Berlin-Tempelhof von einem ihrer Brüder durch drei Kopfschüsse ermordet wurde.

„Nur eine Frau“ rekonstruiert Aynurs letzte Jahre, wie es zu dieser Tat kam – und der Film macht es aus ihrer eigenen Perspektive, wofür sie selbst immer wieder aus dem Off spricht. Als 16-Jährige wird die selbstbewusste Aynur, die immer wieder gegen die Traditionen ihrer Familie aufbegehrt, mit einem Cousin aus der Türkei verheiratet. Sie lebt kurze Zeit in Istanbul, kehrt aber schwanger alleine nach Berlin zurück, weil ihr Mann sie schlägt. 

Im Gegensatz zum Film „Die Fremde“ (Feo Aladag, 2009), der sich ebenfalls an Hatun Sürücüs Geschichte anlehnt, wird Aynurs Zeit in der Türkei ausgespart. Ihre Rückkehr wird von ihrer Familie als „Schande“ angesehen, weshalb sie und ihr Sohn Can kaum und nur in Begleitung die Wohnung verlassen dürfen.

Irgendwann einmal bricht sie aus: Zunächst sucht Aynur Zuflucht in einem Heim für minderjährige Mütter, später bezieht sie mit ihrem Sohn eine eigene Wohnung. Den Bruch mit ihrer Familie verdeutlicht sie, indem sie das Kopftuch ablegt, eine Lehre als Elektroinstallateurin beginnt, und eine Liebesbeziehung zum Deutschen Tim (Jakob Matschenz) eingeht. Ihr Freiheitsdrang wird von ihren Brüdern aber als Beschmutzung der Ehre ihrer Familie angesehen – die Beleidigungen und Drohungen der Familie werden immer ernster.

Regisseurin Sherry Hormann verknüpft verschiedene Stilmittel miteinander, insbesondere neben Aynurs Offstimme Fotos. Die unterschiedlichen Elemente werden vom Schnitt Bettina Böhlers zusammengehalten. Auf die Weise wird auf Wegmarkierungen hingewiesen, die zum Mord führten. Die Innensicht der Frau wird sowohl von der exzellenten Kameraführung Judith Kaufmanns als auch von der Musik Fabian Römers und Jasmin Shakeris unterstützt, die sich nicht in den Vordergrund drängt, die aber Aynurs Gefühle auf der Tonebene darstellt. 

Interview mit Regisseurin Sherry Hormann und Hauptdarstellerin Almila Bagriacik

Den Mord an Hatun Sürücü verfilmte bereits Feo Aladag 2009 in „Die Fremde“. Wie kommt es, dass Sie jetzt sozusagen den „Fall“ filmisch neu aufrollen?

Sherry Hormann: Feo Aladags Film ist wunderbar. Das heißt aber nicht, dass ein Film ein Thema besetzt. In den letzten zehn Jahren ist in unserer Gesellschaft und mit unserer Demokratie sehr viel passiert. Wir haben uns an den Begriff „Parallelgesellschaften“ fast gewöhnt. Mit „Nur eine Frau“ nehmen wir eine andere Perspektive ein. Aynur ist eine von uns ? nicht die Andere. Wir wollten der Verstorbenen, der Frau, die auf offener Straße erschossen wurde, eine Stimme geben, aus ihrer Perspektive erzählen. Um das so authentisch wie möglich zu tun, sind wir zum Beispiel die acht laufenden Meter Gerichtsakten durchgegangen. Die Dialoge in unserem Film basieren auf diesen Fakten ? und vielen Interviews mit Zeitzeugen.

Almila Bagriacik: In „Die Fremde“ hatte ich meine erste Filmrolle. „Die Fremde“ lässt sich zwar von Hatun Sürücü inspirieren, aber in „Nur eine Frau“ beziehen wir uns direkt auf sie. Mir war es sehr wichtig zu wissen, was Sherry (Hormann) vorhatte, in welche Richtung der Film geht. Die Entwicklung, die diese Frau macht, ist unglaublich groß. Sie darstellen zu dürfen, ist fantastisch für eine Schauspielerin. Wenn jemand stirbt, sagt jeder etwas dazu. Nur er oder sie hat keine Stimme mehr. Deswegen war uns wichtig, ihr durch eine Off-Stimme eine Stimme zu geben. Wichtig ist es auch, dass „Nur eine Frau“ darüber aufklärt, dass wir zwischen Religion und Tradition differenzieren müssen.

Können Sie das etwas näher ausführen?

Almila Bagriacik: Die Ehrenmord-Thematik gibt keine Religion vor, sondern ist eine Tradition, die nach Berlin gekommen ist. Es ist wichtig, den Menschen klarzumachen, dass jeder das Recht hat, frei zu entscheiden, wie er leben möchte. „Nur eine Frau“ ist zudem nicht einseitig. Er zeigt auch türkisch- und kurdisch-stämmige Menschen, die anders als die Familie Sürücü leben.

Sie setzen unterschiedliche Stilmittel ein: dokumentarische Bilder, eine Off-Stimme, Fotos ? Ist das nicht etwas zu viel?

Sherry Hormann: Nein. Ich wollte in der Filmsprache etwas Neues ausprobieren, allerdings braucht es dafür die richtige Geschichte. Unsere Sehgewohnheiten verändern sich mehr und mehr. Für mich ist zunächst einmal alles erlaubt. Für mich gibt es keine Gesetze. Die Momente, die in Hatun Sürücüs Leben ikonografisch wichtig waren, möchte ich anders festhalten als in der bewegten Bildsequenz. So kamen die Fotografien von Mathias Bothor dazu.

Die Taten, die der Film beschreibt, liegen 18 Jahre zurück. Hat sich die Lage gebessert? Sehen Sie eine Entwicklung, eine Hoffnung? Was soll der Film bewirken?

Sherry Hormann: Wir erzählen von einer Jeanne d´Arc der Berliner Hinterhöfe, wir erzählen von einer kriegerischen Frau, die sagt: „Ich lasse mir das nicht bieten“, von einer hochemotionalen Frau, die immer wieder zu ihrer Familie zurückkehrt, um die Gefahr weiß und dennoch sagt: „Ich liebe Euch trotzdem“. Kann Film etwas verändern? Ich weiß es nicht. Aber wenn ich nicht versuche, zumindest ein paar Menschen so zu berühren, dass man darüber diskutiert … Es ist einen Versuch wert. Die Hoffnung in die Politik habe ich schon ein wenig verloren.

Almila Bagriacik: Ich wünsche mir einfach, dass die Menschen empathischer miteinander umgehen. Wir folgen dieser Frau, auch wenn wir eventuell nicht ihrer Meinung sind. Das ist das Spannende an Filmen. Wenn der Film in den Schulen gezeigt wird, kann hinterher darüber diskutiert werden. Je mehr über solche Themen gesprochen wird, desto eher kommt man überhaupt auf Gedanken, die man sonst nicht hätte. Deswegen sind mir Kino und Theater so wichtig, weil sich die Menschen gemeinsam den Film oder das Stück anschauen.

Eine Frage in diesem Zusammenhang: Sind Sie Feministin?

Almila Bagriacik: Nein. Sobald ein -Ismus dahinter ist, geht es für mich in eine extreme Richtung. Ich bin der Meinung, dass jeder im Rahmen seiner Möglichkeiten das Recht auf Freiheit hat. Ich mag es nicht, dass Frauen immer mehr in eine Opferrolle hineingedrängt werden. Ich sage nicht, dass Frauen selbst schuld daran sind, aber wir müssen aus dieser Opferrolle herauskommen, und aufhören, auf die Männer mit dem Finger zu zeigen, weil sowohl Männer als auch Frauen unter gesellschaftlichem Druck leiden.