In der klassischen philosophischen Tradition nimmt die Liebe unter den drei „göttlichen“ Tugenden den ersten Rang[1]ein. Inzwischen ist der Begriff aber so sehr inflationiert und banalisiert worden, dass der Grund für diese Rangfolge kaum mehr unmittelbar einsichtig ist. Beginnen wir also mit einer Klärung dessen, wovon hier überhaupt die Rede sein soll.

Liebe, dreifach

Dem deutschen Wort „Liebe“ entsprechen bekanntlich in den klassischen Sprachen mehrere Begriffe: Im Lateinischen vor allem AmorCaritas und Amicitia, bzw. im Altgriechischen  Eros (ἔρως), Agape  (ἀγάπη) und Philia (φιλία). Aus dem Lateinischen sind diese Begriffe in die verschiedenen romanischen Sprache gewandert und natürlich als Fremdworte in viele andere Sprachen,[2] einschließlich des Deutschen. In welchem Sinne sie verwendet werden, das scheint uns fast unmittelbar eingängig: Amor bzw. Eros beherrschen die Konnotation der sinnlichen, körperlichen Liebe, Caritas bzw. Agape klingen fromm und wohltätig, während Amicitia/Philia irgendwo in einem platonisch-profanen Kontext von Freundschaft verortet werden, wobei man an den „guten Kumpel“ denken darf.

Arme deutsche Sprache?

Nicht selten ist zu hören und zu lesen, dass die deutsche Sprache angesichts dieses Befundes doch irgendwie „ärmer“ sei, weil alle diese so unterschiedlichen „Formen von Liebe“ im Deutschen nur mit einem einzigen Wort bezeichnet würden. Das gibt natürlich zu denken, zumal wir doch immer zu wissen glaubten, dass das Deutsche geradezu dieSprache der Philosophie sei. Haben wir hier also einen Nachteil? Ist die Deutsche Sprache in diesem Punkte „arm“?

Bei genauer Betrachtung stellt sich die Sache deutlich komplexer dar. Zum Einen gibt es im Lateinischen und Altgriechischen noch weitere Worte, die mit „Liebe“ übersetzt werden können[3]. Zum Anderen ist schnell zu erkennen, dass bei aller Differenziertheit des Ausdrucks auch in den klassischen Sprachen die selbstverständliche Erkenntnis aufscheint, dass es etwas Verbindendes, Grundlegendes gibt, weshalb man ja überhaupt erst von verschiedenen „Arten von“ Liebe sprechen kann.

Interessanterweise sind es aber gerade die Worte Amor bzw. Eros, die auch den übergreifende Aspekt der Liebe schlechthin bezeichnen. So unterscheidet das Lateinische z.B. zwischen  Amor amicitiae, der „Freundschaftsliebe“ und Amor concupiscentiae, der „begehrenden Liebe“[4]. Und wenn man im Französischen sagt „pour l’amour de Dieu!“ (ins Deutsche zu übersetzen als „um Gottes Willen!“), dann wird selbst in der Alltagssprache plötzlich sichtbar, dass der Begriff Amor/Eros auch in der religiösen Sphäre seinen Platz hat.

Agape gegen Eros?

Dass es hier nicht um philologische[5]Spitzfindigkeiten geht, sondern um das grundlegende Verständnis von Liebe, das beweist die verbreitete Vorstellung, es gebe einen unversöhnlichen Widerspruch zwischen Agape und Eros (bzw. Caritas und Amor) – also zwischen christlichem Liebesgebot und der sinnlichen Liebe. In der philosophisch-theologischen Literatur ist das gelegentlich in der Form einer scharfen Abgrenzung[6] zu finden.

Nun stimmt es zwar, dass das Wort „Agape“ in ganz besonderer Weise die christliche Nächstenliebe bezeichnet. Im Neuen Testament wird der zuvor in der griechischen Sprache wenig gebräuchliche Ausdruck tatsächlich zum Schlüsselwort. Es wäre jedoch verfehlt, daraus eine christliche Abwertung der sinnlichen Liebe zwischen Mann und Frau herleiten zu wollen. Der Fehler liegt mindestens zum Teil darin, dass irrigerweise Amor/Eros und „Sex“ identifiziert werden. In klassischem Wortgebrauch hingegen bezeichnet Eros nicht einfach „Sex“, sondern in der Regel die Ganzheit der Geschlechterbeziehung. Der Begriff Eros kann zudem auch auf Bereiche übertragen werden kann, in denen es nicht um Sinnlichkeit geht, wohl aber um Entrückendes, und Begeisterndes, sogar im Erwerb von Wissen und Bildung.

Die zum Sport oder zur Ware erniedrigte Form von Sex, die wir mit dem Begriff der „sexuellen Revolution“ verbinden, hat jedenfalls mit dem ursprünglichen Wortsinn von Eros wenig zu tun. Eros im hier gemeinten, ursprünglichen Sinne stellt die personhafte Beziehung in den Mittelpunkt, die überwältigende emotionale, personale Begegnung zweier Menschen, die über den sinnlichen Reiz hinaus erst das Ergreifende, Bezaubernde, Entrückende der Liebe zwischen Mann und Frau ausmacht. Banalisierter, unpersönlicher (letztlich entmenschter) Sex, bei dem es gar nicht auf den Partner ankommt, sondern nur auf die unmittelbare Befriedigung genitaler Lust, würde klassisch eher mit dem Begriff Porneia (πορνεία) belegt. Diese Unterscheidung ist wichtig, um dem verbreiteten Vorurteil zu begegnen, die kirchliche Lehre bzw. die christliche Religion als Ganze sei „leibfeindlich“, missachte die Lebenssituation der Menschen und halte eine trockene, unmenschliche Moral aufrecht. Das Gegenteil ist wahr.

Liebe, ganzheitlich

Von der hebräischen Bibel – dem Alten Testament – an, über die „Kirchenväter“ bis zu großen Mystikerinnen der Kirchengeschichte finden sich in der christlichen Literatur immer wieder Vergleiche, die das Verhältnis zwischen Gott und dem Volk Israel, zwischen Christus und der Kirche und überhaupt von Gott und Mensch mit der Liebe zwischen Mann und Frau vergleichen, manchmal mit für uns gewagt klingenden Formulierungen[7].

So erklärt sich auch, wie das „Hohelied“–  literargeschichtlich eine Sammlung zarter hebräischer Liebesgedichte -– es in den Kanon der hl. Schriften des Christentums geschafft hat,  diente doch die Erhabenheit und Personhaftigkeit der ehelichen Liebe als tertium comparationis  für den Vergleich der Gottes- und der Menschenliebe. Keine Spur von Prüderie also, keine Angst vor der Leiblichkeit[8] des Menschen.

Es gehört im Übrigen zu den Grundwahrheiten katholischer Philosophie und Theologie, dass das Übernatürliche die Natur voraussetzt. Die Gnade Gottes setzt beim ganzen Menschen an, trennt nicht Leib und Seele. Es gibt eine gewisse puritanische Kritik am Katholizismus, die der Kirche gerade deshalb Vorwürfe macht. Speziell der katholische, sakramentale Ehebegriff wird in seiner ganzheitlichen Art kritisiert. Diese Kritik folgt allerdings einem übertriebenen Spiritualismus. Auch die Gottesliebe (als göttliche Liebe, ebenso wie als Liebe zu Gott) ist nicht losgelöst von der Conditio Humana[9], setzt sie vielmehr voraus. Gott liebt nicht nur die Seelen, er liebt die Menschen. Wenn es noch eines Beweises bedürfte, so wäre der zweifellos in der Menschwerdung Gottes in Jesus Christus gegeben.

Liebesgebot?

Die christliche Religion hat als Alleinstellungsmerkmal das Gebot der Liebe. Machen wir es uns aber nicht so einfach, hier sofort von „Nächstenliebe“ im heutigen Sinne zu sprechen; denn allzu leicht finden wir uns dann mit der Pflicht zur materiellen Wohltätigkeit ab, was eine hehre und hoch zu lobende, tugendhafte und unabdingbare Tätigkeit des Christenmenschen ist, aber weniger als das hier Gemeinte. Jesus Christus hinterließ seinen Jüngern zwei konkrete, unmissverständliche Aufträge: Liebet einander[10] und verkündet das Evangelium[11]. Während der Missionsauftrag unmittelbar verständlich erscheint, wird zum Liebesgebot oft skeptisch gefragt: Wie kann man das fordern? Man kann verlangen Gutes zu tun, aber zu lieben, ein Gefühl also, das kann man doch nicht fordern oder anordnen…? Und dennoch haben die Jünger es offenbar sofort verstanden.

Wie also ist es nun gemeint, wenn es nicht ausschließlich um karitative Tätigkeiten geht, sondern tatsächlich um Liebe/Agape/Caritas als solche? Offensichtlich geht es hier nicht um Gattenliebe,  Mutterliebe, oder andere „spezielle“, natürlicherweise exklusive, weil nur auf eine oder wenige Personen bezogene Liebe, sondern um die alles umfassende Liebe, in der der Mensch Gott am nächsten ist.

Deus Caritas est[12]

In dieser Perspektive erschließt sich, was in dem Ausspruch „Gott ist die Liebe“ mit enthalten ist: Die Liebe ist das eigentliche Kennzeichen der „Gottesebenbildlichkeit“ des Menschen. Und daraus ergibt sich für das „Liebesgebot“:

Es ist nicht die Forderung, ein Gefühl hervorzurufen – so wenig den Gefühlen der Liebe auch nur das Geringste von ihrer Schönheit und ihrem Zauber genommen wird.
Es ist auch nicht nur eine Anordnung strukturierter karitativer Arbeit – so wenig dem unabdingbaren „Liebestun“[13]etwas von seiner Würde und Wichtigkeit genommen wird.
Und gewiss nimmt das Liebesgebot auch der Freundschaft, der vielleicht „stressärmsten“ Form von Agape, rein gar nichts von ihrem Wert und ihrer menschlichen Wärme.

Liebe im umfassenden Sinne schließt also keine Form von Liebe aus, sie reicht jedoch weiter: Es geht um die Annahme des Anderen als von Gott geliebten Menschen. Daraus folgen Langmut, Güte, Nachsicht, Gelassenheit, Demut, Anstand, Wohltätigkeit, Uneigennützigkeit, Vergebung, Empathie und Ehrlichkeit[14].

Alle „Formen von Liebe“ sind letztlich darin einbezogen und haben in Gott ihre Quelle und ihr Ziel[15]. Es zeigt sich, dass wir mit unserem einen Wort „Liebe“ in der deutschen Sprache doch nicht so falsch liegen. Richtig verstanden führt es uns direkt zu der Erkenntnis der einen Liebe als göttliche Tugend.


Anmerkungen

[1] Schon der Apostel Paulus tat dies in seinem Brief an die Gemeinde in Korinth, 1 Kor. 13,13.

[2] Vgl. z.B. im Französischen Amour, charité, aber auch im Englischen charity.

[3]Hier ist vor allem an Dilectio zu denken (was nahe beim griech. Agape liegt), oder an Storgé (στοργή) im Griechischen, was speziell die familiäre Liebe bezeichnet.

[4]Josef Pieper: Lieben, hoffen, glauben. München 1986. S. 209.

[5]Eine umfassende und doch kompakte Darstellung des philologischen Gesamtbefunds findet sich bei Josef Pieper, a.a.O. S. 21-43. Ergänzend vgl. die Enzyklika von Papst Benedikt XVI. Deus Caritas est / Gott ist die Liebe. Nr. 6.

[6]Vgl. Pieper, a.a.O. S.102 ff.

[7]Vgl. hierzu die Enzyklika von Papst Benedikt XVI. Deus Caritas est / Gott ist die Liebe. Nr. 9 u. 10.

[8] Vgl. hierzu insgesamt: Karol Wojtyla / Johanns Paul II.: Liebe und Verantwortung. Eine ethische Studie. (1986), Dt. Ausgabe im Verlag St. Joseph 2001. Passim.

[9]Der Situation des Menschen als Geschöpf Gottes und als sterbliches Wesen. Vgl. hierzu auch Pieper, a.a.O. 129 f.

[10]Vgl. Joh. 13, 34. das hier wie andernorts im selben Zusammenhang verwendete Verb agapeín ist vom Substantiv Agapeabgeleitet.

[11]Mt. 28, 19 f.

[12]1 Joh 4,16. Vgl. dazu die Enzyklika gleichen Namens von Papst Benedikt XVI., passim

[13]Ebd. Zweiter Teil.

[14]Vgl. das „Hohe Lied der Liebe“ des Apostel Paulus: 1 Kor. 13.

[15] Vgl. dazu das berühmte „Doppelgebot der Liebe“: Du sollst Gott lieben und Deinen Nächsten wie Dich selbst (Mk. 12, 30 f.).