Ballungsräume saugen das Land aus: Welche Folgen des Geburtenrückgangs schon 1978 (!) voraussehbar waren.

Viele dieser von der öffentlichen Hand sicherzustellenden Dienste sind aber abhängig von der Bevölkerungszahl in den einzelnen Orten und ihrer Umgebung. Denn eine Einrichtung wie ein Gymnasium, ein Krankenhaus und kulturelle Institutionen verlangen eine Mindestanzahl an Benutzern, um funktionsfähig zu sein. […] Die Folge wird sein, dass die ursprünglich bestehende Garantie für Lebensqualität nicht mehr eingehalten werden kann. Die Bevölkerung wird dann, um ihren Anspruch auf Lebensqualität zu realisieren, in verstärktem Ausmaß in die Ballungsgebiete ziehen. Geburtenrückgang und Bevölkerungsabnahme führen somit zu einem „Leerlaufen“ der ländlichen Gebiete und später auch der Kleinstädte. Die Folge ist eine Zunahme der Bevölkerung in den Ballungsgebieten, so dass je länger die Bevölkerungsabnahme wirksam ist, ein umso größerer Anteil der Bevölkerung in Ballungsgebieten leben wird.

Sinkende Lebenserwartung: Wo sich die Krisenjahre besonders krass zeigen

Dass die Lebenserwartung in Deutschland im dritten Jahr in Folge gesunken ist, war in den Medien nur eine kurze Meldung. Dabei hätten die Zahlen Aufmerksamkeit verdient. Zeigen sie doch, dass Deutschland nicht so „glimpflich“ durch die Pandemie gekommen ist, wie Gesundheitsminister Lauterbach das erhoffte. Zwar gibt es einerseits Industrieländer, die einen stärkeren Rückgang der Lebenserwartung verzeichneten, insbesondere die USA und Länder im Osten Europas. Andererseits gibt es Länder, die mit geringeren Verlusten durch die Pandemie kamen. Dies gilt z. B. für Nordeuropa, wo die Lebenserwartung weitgehend stabil blieb (1). Worauf diese Unterschiede in der Sterblichkeit beruhen, sollte genauer erforscht werden. Denn nur auf der Grundlage einer differenzierten Analyse ließe sich sachlich über die Bilanz („Erfolg“ oder „Versagen“) der Pandemiepolitik diskutieren.

Solange diese empirischen Grundlagen fehlen, bleiben die Auseinandersetzungen um die Pandemiepolitik rein polemischer Natur. Für Lauterbach & Co erklärt „Corona“ alle Probleme, während die Gegenseite fortfährt über angeblich vertuschte Kollateralschäden von Lockdowns und Impfkampagne zu spekulieren. Jede sachgerechte Analyse müsste die Gesundheitssysteme berücksichtigen. Die Defizite des amerikanischen Gesundheitswesens sind bekannt. Unbestritten sind sie eine Ursache für den Einbruch der Lebenserwartung in den USA, die heute niedriger liegt als Ende der 1990er Jahre (2).

Schon vor Corona war sie rückläufig, nicht zuletzt wegen der Drogenkrise. In den USA wirkte die Pandemie als ein Brandbeschleuniger für die schon länger schwelende Gesundheitskrise. In Deutschland glauben noch viele, dass der Corona-Einbruch ein „Ausrutscher“ ist und die Lebenserwartung rasch wieder steigen wird. Dabei zeigen die amtlichen Statistiken, dass sich der Anstieg der Lebenserwartung seit längerem abgeschwächt hat (3). Auch zeigt sich eine regionale Kluft, die politisch brisant ist. So ist nach den amtlichen Periodensterbetafeln die Lebenserwartung der Männer in den meisten Bundesländern um 0,4-0,6 Jahre gestiegen, in Hamburg sogar um 0,7 Jahre.

Die Lebenserwartung der Frauen stieg (von höherem Ausgangsniveau) um 0,2-0,4 Jahre. Die Männer haben also im Vergleich zu den Frauen etwas „aufgeholt“ (4). Gemessen an früheren Erwartungen ist diese Entwicklung enttäuschend. Bis vor wenigen Jahren gingen Demografen davon aus, dass die Lebenserwartung pro Jahrzehnt um mindestens ein Jahr wächst. So hatte man es über viele Jahrzehnte beobachtet. Vor diesem Hintergrund müssten die jüngsten Daten Fachleute und Politiker eigentlich erschrecken. Zumal in einigen Bundesländern die Lebenserwartung nicht nur weniger steigt, sondern stagniert oder gar sinkt.

Namentlich in Sachsen-Anhalt, Sachsen und Thüringen ist die Lebenserwartung der Männer (leicht) gesunken. Bei den Frauen stagnierte hier die Lebenserwartung. Auffallend schlecht entwickelte sich die Lebenserwartung auch in Bremen und im Saarland (bei den Frauen +0,08, bei den Männern +0,12 bzw. +0,28) (5).  Die krassen Lebenserwartungsdifferenzen zwischen den Bundesländern, sowohl im Niveau wie in der Entwicklung, lassen sich kaum auf die medinische Versorgung zurückführen, jedenfalls nicht die mit Kliniken.

Der Negativtrend hat andere Ursachen, insbesondere Wirtschaftsprobleme und Demographie. Gerade Sachsen-Anhalt, Thüringen und Sachsen leiden (ebenso das Saarland) an Überalterung und Strukturschwäche. Bremen hat zwar eine relative junge Bevölkerung, aber bekanntlich eine schwierige Sozialstruktur. Der Nexus zwischen prekären Sozialstrukturen und niedriger Lebenserwartung ist bekannt. Besonders die USA sind dafür berüchtigt. Deutschland mit seinem Sozialstaat erscheint schien lange davon weit entfernt. Aber längst zeigen sich auch in Deutschland die Grenzen des Fortschritts, der über viele Jahrzehnte die Menschen immer länger leben ließ. Nicht zufällig stagniert bzw. sinkt die Lebenserwartung ausgerechnet in jenen Regionen, in denen sich die wirtschaftlichen, sozialen und politischen Verwerfungen zuspitzen.

(1) https://www.bib.bund.de/DE/Presse/Mitteilungen/2023/2023-09-06-Lebenserwartung-2022-in-allen-Bundeslaendern-unter-Vorpandemieniveau.html

(2) https://www.aerzteblatt.de/nachrichten/139849/Lebenserwartung-der-US-Amerikaner-sinkt-weiterhttps://www.dia-vorsorge.de/demographie/lebenserwartung-in-den-usa-bricht-ein/

(3) „Bis zur Sterbetafel 2006/2008 stieg die Lebenserwartung bei Geburt über Jahrzehnte hinweg im jährlichen Durchschnitt sehr kontinuierlich an – um rund 0,3 Jahre bei den Männern und um etwa 0,2 Jahre bei den Frauen. Danach ist die Lebenserwartung bei Männern und Frauen jährlich um durchschnittlich etwa 0,1 Jahre angestiegen, bevor es im Zuge der Pandemie zu einem leichten Rückgang kam.“ https://www.destatis.de/DE/Themen/Gesellschaft-Umwelt/Bevoelkerung/Sterbefaelle-Lebenserwartung/sterbetafel.html

(4) Siehe Abbildung „Trends der Lebenserwartung regional“/ 

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idaf
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