Vor Jahren war einer meiner Söhne bei einem Klassenkameraden über Mittag zu Besuch. Vor dem Essen sprach er in kindlicher Unbefangenheit sein Tischgebet. Als meine Frau ihn am Nachmittag wieder abholte, nahm die Mutter seines Freundes sie beiseite und fragte, arglos und in echter Verwunderung: „Sagen Sie, sind sie eigentlich sehr religiös?“

Dieser Spruch ist seither in unserer Familie zum geflügelten Wort geworden. Der Frage lag gewiss keine böse Absicht zugrunde, weder Spott noch Kritik. Die Mutter des Klassenkameraden war ganz einfach total überrascht, dass ein Kind – auch noch außerhalb irgendwelcher kirchlicher Feiern – wie selbstverständlich betete.

Das kleine, eher lustige Erlebnis beleuchtete für mich ein gesellschaftliches Phänomen, das ich als religiöse Befangenheit bezeichnen möchte und das längst zum Normalfall des kollektiven Unterbewusstseins unserer Gesellschaft geworden ist. Heutzutage ist es leichter, mit Kindern über Sex zu reden, als über Gott.

Religiöse Befangenheit

Unsere permissive, scheinbar enttabuisierte Gesellschaft hat sich ein neues Tabu herangezüchtet – keines das im Sinne der „political correctness“ schon sozial strafbewehrt wäre, aber doch eines, gegen das man nur mit dem Risiko der Marginalisierung und des belächelt werdens verstößt.

Unbefangene Rede von Gott im öffentlichen Raum wird nurmehr bei kirchlichen Funktionsträgern als „normal“ empfunden. Alle weiteren Bekundungen „religiöser Musikalität“, wie man das scheinbar fremdartige Phänomen im Stil der Zeit verniedlichend nennt, gehören in den Kirchenraum (im wörtlichen Sinne) oder stehen Angehörigen anderer Religionen zu, vornehmlich Muslimen. Der aufgeklärte, gebildete, „humanistisch“ gesonnene (nicht notwendigerweise humanistisch gebildete) Zeitgenosse redet ungern von Gott.

Das kann dazu führen, dass selbst in gläubigen Familien nur noch still und beinahe heimlich gebetet wird, „kirchliche“ Themen zwar noch besprochen werden, aber ein zu offensichtliches Ernstnehmen der Gegenwart Gottes als befremdlich empfunden wird. Die Folge ist, dass selbst Kinder durchaus gläubiger Eltern ungewollt areligiös aufwachsen oder dass ihr vielleicht noch vorhandener Glaube verkümmert, weil ihm Nahrung und Pflege fehlen. Die Frage nach Gott stellt jedes Kind immer wieder, jedenfalls solange ihm nicht implizit bedeutet wird, sie sei unwichtig oder unwillkommen.

Was aber kann man verunsicherten Eltern raten, die sich fragen, wieviel Gott sie ihren Kindern eigentlich zumuten sollen und wie sie dafür den richtigen Platz in ihrem Alltag finden? Nach meiner Erfahrung reicht es, sich auf das Naheliegende zu besinnen – nach dem Prinzip „EZB“:

Ernst nehmen – Zuhören – Beispiel geben

Wenn ich noch einmal die Frage gestellt bekäme, ob wir eigentlich sehr religiös seien, würde ich mit einem Vergleich antworten: So wie man nicht nur etwas schwanger sein kann, kann man auch nicht nur etwas religiös sein – etwa im Gegensatz zu jemandem, der sehr religiös ist. Die „religiöse Erziehung“ der Kinder ist nicht eine pädagogische Aufgabe unter vielen, ihr Misslingen nicht zu vergleichen mit einem abgebrochenen Geigenkurs oder einer erfolglosen Mitgliedschaft im Sportverein.

Weil es um eine Weichenstellung für das ganze Leben geht – und um die einzige, die Bedeutung darüber hinaus hat – sollten wir Gott nicht weniger ernst nehmen als gute Ausbildung, Karriere, soziales Prestige oder die wohlverdiente Entspannung in der Freizeit. Wenn wir unseren Kindern antworten und Beispiel geben wollen, müssen wir erst einmal selbst ernst machen mit Gott und das Sprechen von ihm und mit ihm als Normalität leben.

Wenn der Sohn oder die Tochter wissen will, ob der verstorbene Opa vielleicht im Himmel sei, ob denn nun Gott die Welt geschaffen habe, oder sie sich selbst, wozu man in die Kirche gehen solle, ob alle Religionen irgendwie gleich seien und wieso ausgerechnet das Kreuz das Zeichen der Christen sei, dann sind das drängende Fragen, hinter denen nicht nur Neugier, sondern auch existentielle Bedürfnisse stehen, und wir sollten uns nicht mit einer pauschalen oder ausweichenden Antwort aus der Affäre ziehen.

Daneben gibt es aber auch weniger sichtbare Anlässe, mit unseren Kindern über Gott zu sprechen: wenn sie traurig sind oder krank, wenn sie an sich selbst zweifeln oder an der Gerechtigkeit, wenn sie Sorgen mit der Schule oder mit Freunden haben. In solchen Fällen müssen wir heraushören, ob es nur um Banalitäten geht, oder nicht doch um Wesentliches – und wenn das der Fall ist, wie könnten wir Gott dabei herauslassen?

Ganz unabhängig aber von Anlässen und besonderen Situationen ist das gute Beispiel der Eltern durch nichts zu ersetzen – eine Binsenweisheit, gewiss, aber eine, die anscheinend zu wenig Beachtung findet. Also – ringen wir uns durch, das zu tun, von dem wir eigentlich wissen, dass es richtig ist, auch wenn wir fürchten, damit – für’s Erste – ein wenig aus dem Rahmen des gesellschaftlichen „Mainstream“ zu fallen:

  • Tischgebet sprechen, auch wenn Besuch da ist; (zum Einüben reicht es vielleicht erst einmal, bei Besuchern aus der Familie anzufangen).
  • Auch mit größeren Kindern über das Gebet sprechen („betet Ihr noch Euer Nachtgebet?“). Einer meiner Söhne kam im Alter von 17 Jahren zu mir und berichtete, im Religionsunterricht seien Kinder-Nachtgebete hinterfragt worden; er war mit seinem aber ganz zufrieden und fand daran nicht Peinliches.
  • Wieder regelmäßig in die Kirche gehen – als Familie, aber notfalls auch allein, wenn die Hürde des „frühen“ Aufstehens am Sonntag anfangs gar zu hoch erscheint (aber warum soll man eigentlich in Sachen Terminplanung dem Arbeitgeber mehr Ehre erweisen, als seinem Schöpfer?)
  • Bei familiären Planungen den Kirchgang selbstverständlich berücksichtigen („wenn wir am Sonntag den Ausflug machen, gehen wir eben am Samstag in die Vorabendmesse“). Es ist auch schön, im Urlaub einmal spontan kurz in eine Kirche zu gehen und ein stilles Gebet zu sprechen.
  • Vorgänge im Alltag, in den Nachrichten etc. erkennbar als Christ kommentieren, bei ethisch-moralischen Konfliktthemen „Flagge zeigen“.
  • In Zweifelsfällen einfach im Katechismus (oder im kompakten Kompendium) nachsehen, und die gewonnene Einsicht auch vertreten (dahinter steht immerhin die ganz authentische Tradition der von Christus gewollten Kirche).

Glauben ist sozialverträglich

Bei all dem muss nicht jeder Schritt mit theologischen Grübeleien vorbereitet oder ausführlich im „Familienrat“ beschlossen werden. Je selbstverständlicher wir Gott wieder in unser Alltagsleben einlassen, desto unbefangener werden wir. Und was für die Kinder in der Familie selbstverständlich ist, das leben sie dann auch außerhalb. Nach meiner Erfahrung wird es in einem normalen schulischen Umfeld auch von völlig glaubensfern aufwachsenden Jugendlichen schnell akzeptiert, wenn andere junge Leute sich wie selbstverständlich zu ihrem Glauben bekennen, unbefangen und ungekünstelt, weil er zu ihrem Leben gehört wie Essen, Trinken, Atmen.