In fast allen Industrieländern schrumpft die Bevölkerung[1], und zwar in einem Maße, das die Grundlagen des Wohlstands der kommenden Generationen zu gefährden droht. Die Auswirkungen auf Wirtschaft und Gesellschaft sind seit langem bekannt, und fast jede Regierung greift das Thema immer wieder auf, so als sei gerade jetzt der richtige Moment gekommen und als müsse man das Rad neu erfinden. Die empfohlenen und teilweise auch umgesetzten Rezepte sind vielfach ähnlich, ebenso wie die – in der Regel unzureichenden – Ergebnisse. Da geht es um materielle Anreize zum Kinderkriegen, Steuervorteile, Transferzahlungen,  Programme zur Vereinbarkeit von Erwerbs- und Familienleben usw. usf. Aber den Stein der Weisen scheint noch niemand gefunden zu haben. Dazu kommt noch, dass es beunruhigende Tendenzen gibt, die in die entgegengesetzte Richtung wirken.

Gute Familienförderung mildert zwar den demographischen Niedergang, hat aber in keinem Land bisher die Richtung der Entwicklung völlig umzukehren vermocht. Das liegt u.a. daran, dass neben materiellen Problemen auch immaterielle Aspekte zu beachten sind, wenn man den demographischen Trend beeinflussen will: Werte, Einstellungen, Traditionen.

Dramatisch ist der Bevölkerungsrückgang vor allem in den Ländern Ostasiens[2]. Spricht man mit Experten in Japan oder Taiwan, in Korea oder China, dann bekommt man fast den Eindruck, es gebe unter Fachleuten in der Region eine Art Wettbewerb darum, wer die niedrigste Geburtenrate der Welt habe. Bei diesem bitteren „Wettbewerb“ hätte Japan sicher die Nase weit vorn[3].

1. Was tut Japan gegen die demographische Krise?

2021 verzeichnete Japan einen Negativrekord bei den Geburtenzahlen. Die Zahl der Geburten pro Jahr sank deutlich unter 800.000, was für ein Land mit seinerzeit 126 Mio. Einwohnern erschreckend wenig ist. Durch die Auswirkungen der Corona-Krise wurde das schon lange bestehende Problem noch weiter verschärft. Premierminister Kishida erkannte die Zeichen der Zeit und machte die demographische Entwicklung im Frühjahr 2023 zur Chefsache.

Japan bekommt nun eines der weltweit großzügigsten Förderprogramme für junge Familien. An finanziellen Mitteln und politischer Unterstützung fehlt es also nicht. Aber wie bei uns in Deutschland liegt es auch in Japan nicht nur an Kontostand und Kitaplätzen, ob junge Leute sich für Kinder entscheiden. Um Verhaltensänderungen von nennenswertem Ausmaß zu erreichen, müssen sich auch Mentalitäten ändern. Solange Kinder als Belastung empfunden werden, mit der man irgendwie fertig werden muss, wirken auch großzügige Förderprogramme nur begrenzt.

Japans familienfreundlichste Gemeinde

Genau da hat eine kleine Gemeinde in Westjapan angesetzt. Die Stadt Akashi war dabei so erfolgreich, dass sie inzwischen überall Aufsehen erregt; die dortige Geburtenrate liegt seit Jahren deutlich über dem Landesdurchschnitt. Das blieb natürlich auch der Regierung in Tokyo nicht verborgen, und manch eine Expertendelegation hat sich vor Ort darüber informiert, wie es der Stadtregierung von Akashi, einer mit knapp 300.000 Einwohnern für japanischen Verhältnisse eher kleinen Stadt, gelingen konnte, eine so gute Atmosphäre für Familien zu schaffen.

Umkehr der Prioritäten

Es waren allerdings keine Zaubertricks im Spiel, vielmehr durfte einfach der gesunde Menschenverstand wirken. Im Grunde hat man die üblichen Verhältnisse umgedreht und nicht danach gefragt, wie die Familien sich dem Erwerbsleben anpassen können, sondern umgekehrt: Wie müssen sich Arbeitswelt und Verwaltung ändern, um jungen Familien zu helfen? Finanzielle und organisatorische Fördermaßnahmen, vor allem aber eine grundsätzliche Aufwertung von Familienarbeit und Kinderbetreuung – zuhause und in Einrichtungen – haben dazu beigetragen, dass Akashi nun als kinderfreundlichste Gemeinde Japans gilt.

Dabei wurde bewusst auf die Verantwortung der Eltern gesetzt, und nicht auf staatlich verordnete Maßnahmen. Die wirklich Betroffenen, die Eltern, wurden nach ihrer Meinung und ihren Wünschen gefragt, nicht nur einmal, sondern immer wieder, auch bei scheinbar kleinen und praktischen Alltagsfragen – sei es bei der Gestaltung von Öffnungszeiten und flexiblen Arbeitszeitmodellen, oder bei der Festlegung von Buslinien und Kita-Standorten. Ganz wichtig war es dabei, die Wertigkeit der Familienarbeit hervorzuheben. Das war dann so erfolgreich, dass es der kleine Ort inzwischen sogar in die internationalen und deutschen Medien geschafft[4] hat.

Silberstreif am Horizont?

Aber fraglich bleibt, ob das Konzept sich auch auf die großen Ballungszentren Tokyo, Osaka, Nagoya etc. übertragen lässt. Dort müsste es wohl stadtteilbezogen umgesetzt werden, denn für ein „Gesamtkonzept“ sind die japanischen Mega-Cities wahrscheinlich einfach zu groß. Und bisher hat das viel gelobte Modell Akashi landesweit wenig Nachahmung gefunden. Den einen erscheint es zu teuer und aufwendig, den anderen nicht passend für die Großstadt etc. Die Geburtenrate hat sich jedenfalls noch nicht erholt, und von einem Patentrezept zu sprechen wäre übertrieben.

In einigen Gemeinden bzw. Präfekturen[5] Japans gibt es noch andere kleine, intelligente Projekte, die einen Einfluss auf die Geburtenrate haben könnten, wenn sie implementiert würden. Dabei geht es um ein bisher gänzlich ausgeblendetes bzw. verdrängtes Thema, dem sich unter dem Eindruck der ernsten Lage einige Mutige zuwenden. Es geht um die enorme Zahl von Abtreibungen.

Unzählige Schwangerschaftsabbrüche

Die offiziellen Statistiken des japanischen Gesundheitsministeriums verzeichnen nach den jüngsten vorliegenden Daten pro Jahr 120.000 bis 140.000 Abtreibungen landesweit. Verlässlichen Schätzungen von Experten zufolge liegt die tatsächliche Zahl aber bei bis zu 400.000. Grund für die erstaunliche Diskrepanz ist u.a. die Tatsache, dass viele Abtreibungen im frühen Stadium der Schwangerschaft nicht als solche erfasst, sondern anders deklariert werden. Das dürfte viel damit zu tun haben, dass Abtreibungsärzte, die mit ihrem Geschäftsmodell eine Menge Geld verdienen, auf diese Weise die Kostenerstattung durch die Krankenkassen ermöglichen.

Es bleibt die Frage, warum noch niemand – und sei es nur aus volkswirtschaftlicher und bevölkerungspolitischer Motivation – ernsthaft versucht zu haben scheint, dieses „Geburtenpotential“ zu nutzen. Ein willkommener Nebeneffekt wäre im Übrigen eine Reduzierung der schweren psychischen und physischen Folgeschäden der Abtreibungen bei den betroffenen Müttern. Immerhin gibt es erste gute Ansätze, und vielleicht wird der eine oder andere davon zu einem landesweiten Vorbild[6], ganz ähnlich wie die Stadt Akashi.

Hilfe für Mütter in Notlagen?

In der Präfektur Hyogo (um Kobe) wurde vor gut zwei Jahren ein Pilotprojekt zur Wohnraumbeschaffung für schwangere Frauen in Not gestartet. Dabei geht es darum, Frauen zu helfen die ungewollt schwanger sind, keine Unterstützung von Partner und Familie haben und allein  ihren Lebensunterhalt kaum bestreiten können. Das kleine Pilot-Projekt wurde bewusst ohne große Öffentlichkeitsarbeit begonnen, denn auch in Japan umgibt – allem Pragmatismus zum Trotz – eine Wolke von Tabus das Thema ungewollte Schwangerschaft.

Einen ähnlichen Ansatz verfolgte der frühere Gouverneur von Nara, der geschichtsträchtigen alten Kaiserstadt. Seine Idee einer Art „Mutter-Kind-Dorf“ zielte ebenfalls auf alleinstehende bzw. allein gelassene Schwangere und junge Mütter. Die Aussichten auf Verwirklichung seiner Idee sind aber ungewiss, seit der Gouverneur im Frühjahr nicht wiedergewählt wurde.

In beiden Fällen ging es nicht nur darum Wohnraum zu schaffen, sondern auch Hilfe bei der Gestaltung des Alltags zu leisten – von Babysittern und Kinderbetreuung über Ausstattungshilfen, Jobvermittlung und Transport bis zu ärztlicher Betreuung. Alles fokussiert auf die Nöte alleingelassener Mütter.

Musterstadt im Süden Japans

Einen besonderen Weg geht die Stadt Kumamoto im Süden der japanischen Insel Kyushu. Kumamoto ist seit vielen Jahren Spitzenreiter unter den japanischen Städten, wenn es um nachhaltige Entwicklung und Inklusion geht. Keine andere Gemeinde hat so früh damit angefangen, die SDGs[7] der UNO im eigenen Bereich umzusetzen. Das gute Beispiel hat im ganzen Land Schule gemacht und viele Nachahmer gefunden. Vielleicht gelingt das auch in einem anderen Bereich –  bei der Hilfe für Schwangere in Konfliktsituationen…

In Kumamoto gibt es z.B. die einzige Klinik im ganzen Land, die Schwangeren in Not die Möglichkeit zu einer anonymen Geburt ermöglicht. Vorbild waren ursprünglich die „Babyklappen“ in Deutschland. Die Klinik hat mit Unterstützung der engagierten Stadtverwaltung das Projekt weiterentwickelt. Vielen Frauen kann auf diese Weise geholfen werden, doch gibt es immer wieder juristische Probleme, so dass die erfolgreiche Initiative unter stetem Rechtfertigungsdruck steht. Rat und Unterstützung wird nicht zuletzt in Deutschland gesucht.

Japan bietet aber auch für uns eine Menge Anschauungsmaterial – in konventionellen Programmen zur Familienförderung und bzgl. kreativer neuer Ansätze.


[1]Nicht jeder Rückgang der Bevölkerungszahl muss nur negative Folgen haben; doch scheint das Phänomen in vielen (vor allem „westlichen“) Ländern außer Kontrolle geraten zu sein. Das Gegensteuern fällt schwer, unabhängig vom politischen System. Vgl. hierzu u.a. den Beitrag „Demographische Krise in China“: https://erziehungstrends.info/demografische-krise-in-china

[2]Caveat: Die Lage in Deutschland und Europa ist nicht unbedingt besser (eher graduell und sehr unterschiedlich nach Ländern), nur wird bei uns viel weniger offen mit dem Thema umgegangen.

[3]Vgl. z.B.: https://www.faz.net/aktuell/gesellschaft/menschen/japans-bevoelkerung-schrumpft-im-rekordtempo-demografischer-wandel-19059278.html

[4]Vgl. zum Beispiel: https://www.tagesschau.de/ausland/asien/japan-kinder-100.html

[5]Japan ist in 47 „Präfekturen“ eingeteilt, die von einer Regionalregierung unter Leitung eines Gouverneurs geleitet werden.

[6]Grundsätzlich stehen die Chancen nicht schlecht, denn in Japan ist das Thema Abtreibung noch nicht so ideologisch aufgeladen wie in den USA oder Europa. Japaner sind da viel pragmatischer und weniger politisch fixiert.

[7]„Sustainable Development Goals“ vgl. https://sdgs.un.org/goals