Der „Mammismus“ der Italiener ist weltbekannt. Mit zuckersüßen Liedern und Schlagern besingen sie den lieben Namen der „Mama“, und flöten das so geläufig-vertraute Wort sanft ihr ganzes Leben lang. Niemand im Land der Sonne wird diese hemmungslos ausgedrückte Leidenschaft ableugnen; ja, sie wird sogar unter dem Schirm der Selbstironie gefördert und bewahrt. In anderen Ländern wurde derlei billige Romantik als Sentimentalität abgestempelt, wurde drastisch verdrängt. Obwohl ausgerechnet in Wien Ödipuskomplex und orale Fixierungen das Licht unserer rational-sachlich geformten Welt erblickt haben.

Abhängigkeit von der Mutter

Nach Ansicht unverschämter Psychologen erleben und nähren die mitteleuropäischen Menschen eine magische Bindung an die Mutter, die weder als lyrische Sentimentalität noch als Ausfluss notwendiger Nestwärme zu verstehen ist. Es handelt sich vielmehr um eine unzerstörbare Abhängigkeit, die beileibe keine gute Voraussetzung für die Reife des Menschen bildet.

Fast blasphemisch wiederholen Fachleute den Ausdruck „Affenliebe“, um damit jene Art und Weise sehr weit verbreiteter, instinktiver, ichhaftiger Mutterliebe zu bezeichnen, die bei den an die Mutter fixierten Kindern eine Unzahl krankhafter Erscheinungen hervorruft: Unsicherheit, Charakterschwäche, Egozentrik, psychosomatische Störungen, Minderwertigkeitsgefühle, Unfähigkeit zu reifer Liebe und – ganz allgemein – eine Verkümmerung der eigenen Lebensentfaltung.

Mutterliebe für die körperliche und seelische Entwicklung des Menschen unbestreitbar

Ein hervorragender Forscher, R. Spitz, der wie viele andere österreichische Psychologen den Spruch „Nemo propheta in patria“ an sich bestätigt fand, hat weltberühmte, detaillierte Arbeiten den Wirkungen mütterlicher Lieblosigkeit an unerwünschten Kindern gewidmet, die klar und unbestreitbar die Notwendigkeit der Geborgenheit in der Mutterliebe für die körperliche und seelische Entwicklung des Menschen beweisen.

Das Kind muss als Mensch empfangen und akzeptiert werden: Es hat „feine Antennen“ und spürt schon am Anfang seines Lebens die Unechtheit, besonders wenn sie durch materielle Verwöhnung den Respekt vor der Menschenwürde und die innerliche, affektive Widmung ersetzen möchte. Kindern, denen zwar an Essen, Bequemlichkeiten und ärztlicher Sorge nichts mangelt, die aber nie einen selbstlosen, affektiven Kontakt zu ihrer Mutter erfahren haben, leiden gerade in dem Maße an seelischen und leiblichen Entwicklungsstörungen, als sie – passiv oder rebellisch – in völliger Abhängigkeit von der Mutter bleiben.

Frau und Mutter sein

Mütterliche Egozentrik, mehr oder weniger bewusst als Liebe getarnt, schafft die krankhafteste Atmosphäre, in der ein Kind aufwachsen kann. Die dringend erforderliche Formung und Läuterung der Mutterliebe aber wird gerade in der Mädchenerziehung total vernachlässigt.

Im deutschen Sprachraum pflegt man zwar viel über die Gleichberechtigung der Frauen zu palavern und rühmt die weibliche Präsenz in allen Arbeitsbereichen, die alten Tabus hinsichtlich der Stellung und Sendung der Frau in der Welt herrschen aber – wie jüngst publizierte Forschungen zeigen – an allen Ecken und Enden der verschiedensten Gesellschaftsschichten.

Es gibt immer noch Leute, die behaupten, dass weibliche Intelligenz weniger schöpferisch und originell sei – trotz der Nobelpreise, die Frauen in den letzten Jahrzehnten zuerkannt wurden -, sie behaupten, dass die Frau von der Natur in erster Linie zur Mutterschaft bestimmt sei.

Bildung und Mutterschaft sind kein Widerspruch

Dass unsere heutige Kultur bei angesehenen Gelehrten weiterhin eine solche primitive Mentalität nährt, die unter anderem Bildung und Mutterschaft als einander widersprechend betrachtet, sollte uns die Größe und Menschlichkeit unseres Fortschrittes etwas skeptischer betrachten lassen. Die selbstverständliche Bestimmung zur Mutterschaft aber bleibt im Zeitalter der Spezialisierung und der höchst raffinierten Bildungsansprüche erstaunlich weit links liegen.

Während man nicht einmal die kleinste Kleinigkeit ohne Diplom, gesetzliche Überprüfung und Nachweis der Befähigung herstellen kann, bleibt die schwierigste Aufgabe auf dieser Welt – die Erzeugung und Erziehung des Menschen – der „bloßen Natur“ überlassen. Die meisten Frauen heiraten – von Minderwertigkeitsgefühlen beladen – ohne irgendeine adäquate Vorbereitung. Sie sind der „Schatz“ des ernsthaft beschäftigten Mannes, und der Jagd nach ihm haben sie ihre beste Zeit widmen müssen.

Ihre durch die männliche Überlegenheit heraufbeschworene Egozentrik hindert ihre Selbstverwirklichung und versperrt ihnen neu den Weg zum Bewusstsein eines befriedigenden Lebenssinnes, beides Voraussetzungen für echte eheliche Liebe und eine selbstlose Liebesbeziehung zum Kind.

Mangelnde eheliche Liebe als Quelle des „Muttismus“

Allzu oft wird die eheliche Liebe grundsätzlich entstellt. Sie versandet nach dem Strohfeuer der Leidenschaft in der Banalität gemeinsamer, fast kaufmännischer Interessen. Das unbefriedigte Liebesbedürfnis der Frau als Mensch wirft sich mit allen ichhaftigen Saugkräften auf das Kind, das zum Opfer dieser beklemmenden Situation wird: Es ist Zuflucht, Trost, Ehre und Krone der ungesättigten Frauenliebe. Es soll der Frau das geben, was diese in der Ehe nicht erlangen konnte.

Jenes Klima, das der gegenseitigen Liebe und menschlichen Wertschätzung unter den Partnern widerspricht, schadet der Entwicklung des Kindes mehr als jede Streitigkeit, die zwar häufig vermieden, dafür aber durch kalte Reserviertheit ersetzt wird. Die unaufhörliche, bittere und verdeckte Feindseligkeit zwischen Vater und Mutter, die oft, aber nicht immer, die „Affenliebe“ zum Kind entstehen lässt, gehört zu den schlimmsten Erfahrungen, die ein Kind machen kann. Es wird unsicher, misstrauisch gegenüber dem Leben und spürt, dass die Liebe eine Lüge ist. Eine der ehelichen Liebe entbehrende Atmosphäre lässt die Persönlichkeit des Kindes verkümmern und bereitet den Weg zu künftigen Neurosen.

Vorsicht: „Muttersöhnchen“

Ungebildetheit, unbefriedigtes Liebesbedürfnis, Angst, Misstrauen und Minderwertigkeitsgefühle der Mutter führen zu einer Bindung an das Kind, die vor allem aus Tabus und albernen Sicherheitsmaßnahmen besteht. Ohne Risiko will die Mutter auf eigene Faust jeden Schritt des Kindes vorherbestimmen. Eine von weiblichem Formalismus (der letzten Zuflucht entmutigter Menschen) geprägte Zwangsvorstellung von der Gesundheit kreiert den Typ des Muttersöhnchens: Taschen und Bauch vollgestopft, bejaht es kritiklos die große Rolle, die das Essen einnimmt; es gilt ihm als angstvolle Abwehr der Krankheit.

Gesundheit als Fett, Sauberkeit als kitschiger Glanz (wie bei den renovierten Fassaden von Altwiener Palästen), Sicherheit als Beseitigung des Unvorhergesehenen – sie hemmen die Vitalität und den Unternehmungsgeist der Kinder. Diese Fehlhaltungen sind wie die Ampeln, die den fließenden Verkehr so unangenehm stauen und die Autofahrer immer nervöser und immer unfähiger zu einer schnellen Reaktion machen („Muttismus“ auf öffentlicher Ebene!).

Die allgegenwärtige Mutti muss alles kontrollieren, womöglich alles entscheiden, pausenlos die Arbeit der Kinder überwachen, deren Berufung nach ihren Wünschen ausrichten, in der Nähe des schon verheirateten „Kindes“ bleiben, um selbst in sein Eheleben eingreifen zu können: Sie muss herrschen, wo sie allein selbstlos lieben sollte.

Und die Kinder, gleichgültig ob jugendlich oder erwachsen, verlieren unvermeidlich den Mut zu reifer Selbständigkeit und wahrer menschlicher Freiheit, auch wenn sie der Mutter vielleicht lieblos gegenüberstehen. Der aus vorwiegend kommerziellen Gründen aufgebaute Muttertag bringt die Apotheose zwanghafter Mutterbindung und verwandelt sich nicht selten in den Tag des Ehekraches.

Echte Verantwortlichkeit

Die entscheidenden und wertvollsten menschlichen Eigenschaften und Tugenden sollten nicht gelernt, sondern ganz natürlich „ausgeatmet“ werden. Eine auf die Erziehung der Kinder völlig unvorbereitete Frau kann ja, innerlich von allzu viel Sorgen und Ängsten bewegt, die notwendige Ansteckungskraft dieser edelmütigen, bereit-offenen Eigenschaften und Tugenden gar nicht besitzen und ausstrahlen. Deshalb beschränkt sie ihre im Jammerton vorgetragenen, langweiligen Ermahnungen oft auf den Bereich kleiner – kleinlicher – Verhaltensweisen und Umgangsformen.

Sie kann zwar manchmal wie eine verwundete Löwin brüllen, aber sie predigt nur Kleinigkeiten: Sparsamkeit – nicht Großzügigkeit dem Geld gegenüber, Vorsicht – nicht Mut und Kühnheit, Schlauheit – nicht Liebe zur Wahrheit, Gemütlichkeit – nicht Opfergeist und frohe Ideale, Erfolgssucht – nicht Verlangen nach Wissen und Dienen!

Langes Gesicht, Gejammer, Strafen

Sie misst dem Erfolg des Kindes im Studium zum Beispiel eine maßlos übertriebene Bedeutung bei. Sie begnügt sich nicht damit – wie es vernünftig wäre -, dass das Kind nicht allzu weit hinter den anderen zurückbleibt: nein! Sie will den Erfolg, der ihren Stolz befriedigen soll, und für ihn kämpft sie mit allen Waffen: Langes Gesicht, Gejammer, Strafen; oder mit dem Kind zusammen ein gemeinsames Schimpfen gegen die Lehrer, die so ungerecht beurteilen und so schlecht unterrichten, oder auch braves, gemeinsames Hausaufgaben-Machen mit dem hoffnungsvollen Sprössling.

Das Kind sollte hingegen von den ersten Schuljahren an die eigene Verantwortung tragen, den eigenen Kampf führen lernen, und es sollte Erfolge und Misserfolge annehmen, ohne dabei begeistertem Applaus oder tragischen Tränen begegnen zu müssen. Die Mutter sollte dazu nichts weiter tun, als die Schule den ihr entsprechenden bescheidenen Rahmen nicht überschreiten zu lassen, den Stolz einzudämmen und über die Entmutigung hinwegzuhelfen.

Frei lassen

Wichtig und entscheidend ist, dass das Kind die Liebe zum Leben weiter entfaltet, dass es ganz frei seine Berufung findet. Die Mutter soll schweigend darauf warten, dass der junge Mensch seinen eigenen Weg einschlägt; sie soll keine Ansprüche erheben und für jede Lebensmöglichkeit offen und bereit sein.

Moralisten und Soziologen sprechen viel über „verantwortliche Elternschaft“, die ganz naiv auf die Kinderanzahl reduziert wird. Durch solche mathematischen Maßnahmen nimmt die Gefahr falscher Erziehung ständig zu und bedroht die gesamte abendländische Kultur. Psychiater und Psychologen wissen genau Bescheid über die im allgemeinen vorteilhaftere Situation der Söhne und Töchter kinderreicher Familien. Sie sind – Gott sei Dank – weniger gepflegt, viel weniger verwöhnt, viel früher selbständig, entschlossener, mutiger, lebensfroher als die ängstlichen, fettleibigen, phantasielosen Kinder „verantwortlicher Eltern“, die unter der Despotie primitiv denkender Mütter schwer die Reife erlangen. Katastrophal daher die Situation jedes Landes, das kein Vater-, sondern ein Mutti-Land ist, insofern die Mütter unter dem Vorwand „heiligsten Gefühles“ und der besten aller alten Sitten sich gänzlich ahnungslos von Tabu-Vorstellungen und Tabu-Handlungen leiten lassen und auch die anderen danach leiten.

Nach Statistiken lechzende Soziologen grübeln allseits über den Mangel an Priesterberufungen in unserer Zeit. Aber jede Zeit und jedes Volk hat so viele Priester, wie sie verdienen. Deshalb, und allen soziologischen Betrachtungen zum Trotz, zeigen die Statistiken, dass immer noch bei 92 % der heute so seltenen Priesterberufungen einer echt gläubigen Mutter (nicht dem Vater) die entscheidende Rolle zugefallen ist.

Nicht nur in diesem Bereich, sondern überall dort, wo ein voller, großzügiger Einsatz gefordert wird, ist eine ichhafte Mutter die Ursache der Ablehnung und der Kraftlosigkeit im Leben: Paktieren, Kompromissbereitschaft, Zweideutigkeiten aller Art, liebloses „leben und leben lassen“, Trägheit und Lauheit wachsen auf dem Boden falscher, ichbezogener mütterlicher Besorgtheit, die das Lebendigste und Höchste im Leben eines Menschen kastriert.

Die Mutter muss für das Kind wichtig sein – aber nicht zu wichtig; sie muss ihm gefallen – aber nicht zu sehr; sie muss eine enge Beziehung haben – aber nicht zu eng. Ihre Liebe hat vor allem voll Vertrauen zu sein, damit in der Tat die Reife erreicht wird, die nur in einer, für die Mutter manchmal schmerzlichen Freiheit und Selbstständigkeit bestehen kann. Leiblich getrennt von der Mutter, erlebt das Kind den ersten Augenblick seines Daseins, seelisch von ihr getrennt, wird der Mensch fähig zur Reife und damit zur Erlangung einer echten, liebevollen, tröstlichen und notwendigen Mutterbindung.
Dann wird er wie Rilkes Cornet sagen können:

„Meine gute Mutter,
seid stolz: ich trage die Fahne,
seid ohne Sorge: ich trage die Fahne,
habt mich lieb: ich trage die Fahne,
die bunte, brennende, abenteuerliche Fahne des Lebens.“

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Johannes B. Torelló
* 7. November 1920 in Barcelona; † 15. August 2011 in Wien - war ein aus Spanien stammender österreichischer Geistlicher und römisch-katholischer Theologe sowie weltbekannter Neurologe und Psychiater. - Zahlreiche Werke über Themen des Grenzgebietes Psychiatrie-Seelsorge-Spiritualität. Mehrmals übersetzt wurden zwei Bücher: „Psicanalisi e confessione“ und „Psicologia Abierta“ (auf Deutsch ursprünglich als Essays in der Wiener Monatsschrift „Analyse“ erschienen). Andere Titel von Vorträgen, Aufsätzen usw.: Medizin, Krankheit, Sünde; Zölibat und Persönlichkeit; Was ist Berufung? Die Welt erneuern (Laienspiritualität); Über die Persönlichkeit der ungeborenen Menschen; Erziehung und Tugend; Glauben am Krankenbett; Arzt-Sein: Soziale Rolle oder personaler Auftrag? Die innere Strukturschwäche des Vaters in der heutigen Familie; Echte und falsche Erscheinungen; Schuld und Schuldgefühle; Die Familie, Nährboden der Persönlichkeitsentwicklung; Neurose und Spiritualität; Über den Trost; Lebensqualität in der Medizin.