„Denn was ist letzten Endes der Mensch in der Natur? Ein Nichts im Blick auf das Unendliche, ein All im Blick auf das Nichts, eine Mitte zwischen dem Nichts und dem All.“ (Blaise Pascal)

Charaktertest für unsere Gesellschaft

Die Pandemie als „Charaktertest für unsere Gesellschaft“… Dieses hehre, vielleicht irgendwie auch ermutigende Bild zeichnete Gesundheitsminister Jens Spahn Anfang Oktober angesichts der rapide steigenden Infektionszahlen. Das machte doch erstmal Mut, stimmte zuversichtlich. Einen Charaktertest kann man bestehen. Man bleibt handlungsfähig, kann das Geschehen beeinflussen.

Doch wie ist es um die Trägerin dieses potentiellen Charakters, um „die“ Gesellschaft, bestellt? Kann ein Kollektiv Charakter zeigen? Wie sähe das konkret aus?

Die Antwort gab der Minister gleich selbst: Auf jeden Einzelnen komme es nun an, wenn 80 Millionen mitmachten, sänken die Chancen des Virus gewaltig.

Das „zoon politicon“ in uns ist also gefragter denn je. Und zwar in der Form, sich möglichst an alle Maßnahmen und Empfehlungen zu halten. Nun, der Blick in die Berliner Parks und Kneipen, auf die Bürgersteige und in die Restaurants zeugt von einer etwas anderen Realität. Viele scheinen (noch?) recht unberührt von der auf ihren Schultern ruhenden Verantwortung. Wie kommt das?

Prof. Dr. Raphael Bonelli, ein bekannter Wiener Psychiater, hat bezüglich des Umgangs mit dem Coronavirus eine tiefe Spaltung der Gesellschaft ausgemacht. So gäbe es die „Gesundheitsapostel“ auf der einen, die „Freiheitskämpfer“ auf der anderen Seite. Deeskalation sei das Gebot der Stunde.
Das klingt gut und sinnvoll.

Die „Was-geht-mich-das-Ans“

Andererseits meine ich auch (mindestens) eine dritte Gruppe auszumachen; die der „Was-geht-mich-das-Ans“. Wie Freiheitskämpfer wirken die dicht aneinander gedrängten Kneipenbesucher im Nachbarhaus jedenfalls irgendwie so gar nicht. Als Gesundheitsapostel scheiden sie sowieso aus.
Was den von Prof. Bonelli ausgemachten Parteien -in meinen Augen- angerechnet werden kann, ist, dass sie sich -im Idealfall- basierend auf (den jeweilig passenden) Fakten eine Meinung erarbeitet haben.

Doch wie sieht das bei den „Was-geht-mich-das-Ans“ aus? Kann es sein, dass sich (auch jenseits von Corona) eine gewisse “Was-geht-mich-das An-Mentalität” ganz gemütlich gemacht hat in unserer Gesellschaft? Dass einige von uns ein wenig das Interesse verloren haben an der -nun viel beschworenen- Übernahme von gesellschaftlicher Verantwortung? Was bedeutet denn eigentlich Verantwortung?

Viktor Frankl, der nach Sigmund Freud und Alfred Adler mit seiner Logotherapie und Existenzanalyse die sogenannte Dritte Wiener Schule ins Leben rief, definiert Verantwortung als „die Beantwortung der Frage(n), die das Leben einem stellt“.

Es geht also um einem dialogischen Prozess zwischen dem Leben und jedem Einzelnen selbst. Letztlich vielleicht um jene „Existenzweise des inneren Zwiegesprächs“, die Hannah Arendt als Einsamkeit​ bezeichnet.

„Einsamkeit bedeutet, dass ich, obwohl allein, mit jemandem (das heißt, mit mir selbst) zusammen bin. Sie bedeutet, dass ich Zwei-in-Einem bin…diese innere Zweiheit, in der ich mir selbst Fragen stellen und von mir Antworten erhalten kann… „, schreibt Arendt. Die der Einsamkeit entsprechende Tätigkeit sei das Denken.

Denken heiße auch bei Sokrates stets Prüfen und Befragen. Immer sei damit auch das Zerschmettern von Götzen, das Nietzsche so begeisterte, verbunden.

Es geht Sokrates gerade nicht darum, die Gesellschaft möglichst “in Ruhe” zu lassen. Vielmehr soll der Einzelne durch Fragen zum eigenständigen Denken provoziert, die Individuen wieder erkennbar aus der Menge, die ja gerade aus einzelnen Individuen besteht, herausgestellt werden.

Vielleicht kann also die Charakterfrage der eingetretenen Situation dahingehend verstanden werden, der möglicherweise teilweise herrschenden „Banalität der Ignoranz“ zu entkommen; einander und sich selbst wieder wirklich Fragen zu stellen, öfter und differenzierter um die eigene Haltung zu ringen?

So ausgeliefert und zerbrechlich das menschliche Leben sein mag, so wirkmächtig kann es vielleicht andererseits auch -gerade jetzt und überhaupt- von jedem Einzelnen gestaltet/“ver-antwortet“ werden?

Eine wichtige Voraussetzung dafür könnte das innere Zwiegespräch sein, die aufrichtige Suche nach einer jeweils der Situation entsprechenden stimmigen, eigenen Antwort.

Vielleicht kann eine so verstandene “Einsamkeit”, die nach Hannah Arendt gerade keine Isoliertheit bedeutet, gerade jetzt auch wieder wichtige Brücken schlagen von einem Selbst zum anderen Selbst. Von Mensch zu Mensch.

„Zwei Dinge erfüllen das Gemüt mit immer neuer und zunehmender Bewunderung und Ehrfurcht, je öfter sich das Nachdenken damit beschäftigt: Der bestirnte Himmel über mir und das moralische Gesetz in mir.“ (Immanuel Kant)