Es wird Zeit, sich mit Edith Stein zu beschäftigen, und zwar viel mehr als bisher, über Fachkreise hinaus und unabhängig von Gedenktagen! Von dieser großen Heiligen des 20. Jahrhunderts können wir noch viel lernen. Aber manchmal hat man den Eindruck, dass ihr Bild in der breiteren Öffentlichkeit noch ein wenig verschwommen ist. Zuweilen scheint es sogar eine gewisse Scheu ihr gegenüber zu geben.

Berührungsängste?

Liegt es an der als schwierig bis hermetisch empfundenen Philosophie, in der sie eine so große Meisterin war und die dem ungeübten Leser, der sich in diesen Sphären selten bewegt, Schwierigkeiten bereiten kann? Oder an einer rein historisch-biographischen Betrachtungsweise, wodurch immerzu der dunkle Schatten von Auschwitz auf ihr Lebenswerk fällt, was als belastend empfunden werden könnte? Tatsächlich kann der Märtyrertod dieser großen Heiligen, ihre Ermordung durch die Schergen des NS-Regimes, niemals ausgeblendet oder verdrängt werden.

Zuweilen trifft man auch auf eine gewisse Befangenheit der Märtyrerin Edith Stein gegenüber, mit Blick auf den interreligiösen Dialog. Edith Stein war Jüdin, konvertierte zum Katholizismus; sie empfand Dankbarkeit für die besondere Gnade, Christus als eine Frau aus seinem Volk nachzufolgen[1]. Sie ist eines der sechs Millionen jüdischen Opfer der Shoa, und sie ist auch eine Märtyrerin für ihren katholischen Glauben. Eine Belastung, etwas Trennendes? Eher eine spirituelle Brücke im christlich-jüdischen Dialog.

Von ihrem Leben und Werk geht insgesamt eine durch und durch ermutigende, positive Wirkung aus, Hoffnung auf Versöhnung und Zuversicht aus dem Glauben; nicht Düsternis oder gar Verzweiflung. Was könnte ein besserer Beweis für Heiligkeit sein? Die Kirche tat gut daran, sie „zur Ehre der Altäre“ zu erheben. Einige Stichworte mögen hier genügen, um zu einer vertieften Beschäftigung mit den vielen unterschiedlichen Aspekten von Edith Steins Leben und Werk anzuregen.

Die Philosophin

Die hochbegabte Tochter einer jüdischen Familie[2] in Breslau promovierte in Philosophie bei dem großen Philosophen Edmund Husserl, dessen Meisterschülerin und Assistentin sie wurde. Schon als junges Mädchen war sie von einer unstillbaren Wissbegier und Wahrheitssuche zu immer weiteren Studien motiviert worden, in Philosophie, Geschichte, Psychologie. In der seinerzeit aufregend neuen philosophischen Methode der Phänomenologie, deren Begründer Husserl ist, fand sie eine ihrem Geist und ihrem Suchen gemäße Weise der Erkenntnis. Ihre Arbeiten[3] erregten Aufsehen, und es wurde schnell klar, dass Husserl hier ein Jahrhunderttalent gefunden und gefördert hatte.

Ein anderer großer Schüler Husserls war kein geringerer als Martin Heidegger. Er und Edith Stein gingen allerdings unterschiedliche Wege. Auch unter rein philosophiegeschichtlichem Aspekt ist die Frage erlaubt, was es wohl bedeutet hätte, wenn Edith Steins philosophisches Werk nicht unvollendet geblieben wäre. Hätte sie ihre universitäre Laufbahn in der eigentlich verdienten Weise verfolgen können, und wäre sie nicht schon 1942 von den Nazis in Auschwitz ermordet worden, dann erschiene ihr Name in den Annalen der Philosophie womöglich noch vor dem Heideggers.

Auch nach ihrem Eintritt in den Karmel[4] arbeitete und publizierte Edith Stein weiter. Einige ihrer wichtigsten Werke entstanden in dieser Zeit. Die Philosophie war gewissermaßen ihre „erste Liebe“, und sie verstand es meisterlich, die Brücke zur Theologie zu schlagen. Ihr Werk ist eine wunderbare Synthese von beiden.

Die Frauenrechtlerin

Edith Stein lebte nie in einem Elfenbeinturm, sie war niemals weltfremd, weder als Wissenschaftlerin, noch später als Nonne. Im ersten Weltkrieg leistete sie freiwillig Dienst in einem Seuchenlazarett. Und die gesellschaftlichen Entwicklungen und Herausforderungen der Zeit nahm sie nicht nur aufmerksam wahr, sondern betätigte sich auch selbst politisch. Sie engagierte sich aktiv für das Frauenwahlrecht und trat nach Ende des Ersten Weltkriegs in die neu gegründete liberale Partei DDP ein, ohne allerdings eine politische Karriere anzustreben.

Wie weit damals der Weg zur Gleichberechtigung noch war, musste sie selbst bitter erfahren. Sie hatte 1916 bei Edmund Husserl in Freiburg mit der Bestnote Summa cum laude promoviert, was nach Aussagen ihres akademischen Lehrers nicht nur äußerst selten war, sondern ausdrücklich eine Empfehlung zur Habilitation. Dass ihr diese trotz zweier Versuche verwehrt wurde, lag eindeutig nicht an ihren Leistungen, die dauerhaft herausragend waren, sondern schlicht daran, dass sie eine Frau war. Da ihr die verdiente akademische Laufbahn verwehrt blieb, arbeitete sie später als Lehrerin und schließlich als Dozentin für wissenschaftliche Pädagogik. Dazu hielt sie Vorträge im In- und Ausland.

Die Konvertitin[5]

Als junge Frau hatte sich Edith dem jüdischen Glauben ihres Elternhauses entfremdet, ohne dass es deswegen einen Bruch mit der Familie gegeben hätte. Sie blieb vielmehr ihrer Mutter[6] und ihren Geschwistern, besonders zwei Schwestern, immer emotional eng verbunden. Wobei ihre besondere Begabung und ihr ausgeprägtes Selbstbewusstsein ihr schon im heimischen Breslau ganz von selbst eine Art Sonderstellung beschert hatten. Sie lebte frohgemut im Vollgefühl ihrer Talente und Möglichkeiten, was von ihrem Umfeld auch akzeptiert wurde[7].

Als junge Studentin in Breslau und Göttingen verstand sie sich als Atheistin. Die jüdischen Überlieferungen und Gebräuche, mit denen sie aufgewachsen war, verachtete sie nicht, sah aber darin wenig mehr als Kulturgüter oder gesellschaftliche Traditionen. Doch für eine Frau mit ihren Talenten konnte dieser selbstgewisse, aber vordergründige Überschwang nicht lange genügen. Ihr scharfer Verstand und ihre unermüdliche Wahrheitssuche ließen sie das intellektuell Unzureichende des Atheismus erkennen. Sie blieb eine Suchende.

Die tatsächliche Zuwendung zum christlichen Glauben geschah dann aber fast in einer Art „Damaskus-Erlebnis“, bei der Lektüre der Autobiographie der Hl. Teresa von Avila. Dabei tritt ein Zug im Wesen Edith Steins zutage, der auch in ihrem Werk fruchtbar wurde: ein Gefühl für Mystik. Freilich war ihrer Konversion eine intensive Beschäftigung mit dem katholischen Glauben vorausgegangen.

Entgegen gelegentlichen anderslautenden Behauptungen trat Edith Stein übrigens nicht für eine Art Frauenpriestertum ein. Sie erkannte vielmehr die besondere sakramentale Berufung zum Priestertum, die ebenso unwandelbar ist, wie die besondere Würde und Berufung der Frau und Mutter. In ihrer Betonung der Berufung jedes Menschen zur Heiligkeit in seinem jeweiligen Stand kann man eine gedankliche und spirituelle Nähe zum Charisma des Hl. Josemaría Escrivá und dem Konzept der Heiligung in der Arbeit und im alltäglichen Leben wahrnehmen[8].

Edith Stein trat im Oktober 1933 in den Kölner Karmel ein. Dort nahm sie den Ordensnamen Teresia Benedicta a Cruce[9] an, einen wahrhaft sprechenden und geradezu prophetischen Namen, wenn man an ihren Märtyrertod in Auschwitz denkt.

Die Märtyrerin

Edith Stein war Ende 1938 zu ihrem Schutz vor dem NS-Terror in ein Karmeliterinnen-Kloster in den Niederlanden (in Echt, südlich von Roermond) übersiedelt. Aber nach Kriegsbeginn und der Besetzung der Niederlande gab es keinen weiteren Ausweg. Es ist ergreifend zu lesen, wie Edith Stein in beinahe prophetischer Weise über die Hingabe ihres Lebens geschrieben hat, zu einer Zeit, als sie noch nicht ahnen konnte, auf welche Weise sich das erfüllen würde[10]. Als sie am 2. August 1942 in ihrem Kloster verhaftet wurde, blieb auf ihrem Schreibtisch das unvollendete Manuskript ihres letzten Werkes zurück: der „Kreuzeswissenschaft“.

Der Gedanke, ihr Leiden mit dem Leiden Christi zu vereinen[11] gab ihr Kraft, nicht nur für sich selbst, sondern auch für ihre Schwester Rosa[12], die ebenfalls in den Karmel eingetreten war. Edith verlor auch in den letzten Tagen ihres Lebens nicht ihre bewundernswerte und auf andere segensreich ausstrahlende innere Ruhe. Edith und Rosa wurden beide nach Auschwitz deportiert, wo sie wohl schon am Tag der Ankunft, dem 9. August 1942, ermordet wurden.

Ihre Heiligsprechung[13] ist ein Zeichen der Hoffnung und – ganz im Sinne der „Benedicta a Cruce“ – auch eines der Sühne. Das ist in unserer Gegenwart, in der die Zahl der Märtyrer wieder so hoch ist wie selten zuvor, ein Grund mehr für eine verstärkte Hinwendung zur Hl. Edith Stein. Sie legte Zeugnis ab durch ihr Leben und ihr Martyrium, aber auch durch ihre Schriften, deren Wirkung in Philosophie, Theologie und Kirche noch gar nicht richtig begonnen hat.

Vorbild und Fürbitte

Die Hl. Edith Stein ist auch mit ihrer konsequenten Lebensführung ein Vorbild: für Ehrlichkeit und intellektuelle Redlichkeit, für Frömmigkeit und Nächstenliebe. Es gibt aber noch einen anderen Aspekt, der sie als Vorbild und Fürsprecherin besonders hilfreich und anziehend macht. Ihr Übertritt zum christlichen Glauben und ihr Eintritt in den Karmel, wie auch die Konversion ihrer Schwester Rosa, waren für ihre Mutter nicht leicht, was Edith wiederum belastete. Auch betete sie viel für ihren verehrten Lehrer Edmund Husserl und um seine Bekehrung. Sie war aber zutiefst überzeugt, dass gute Menschen, wie diese beiden, Gottes Barmherzigkeit finden, auch wenn sie außerhalb der Kirche bleiben: „Um meinen lieben Meister mache ich mir keine Sorgen. Es hat mir immer sehr fern gelegen zu denken, dass Gottes Barmherzigkeit sich an die Grenzen der Kirche bindet. Gott ist die Wahrheit. Wer die Wahrheit sucht, der sucht Gott, ob es ihm klar ist oder nicht“[14].

Für viele unter uns ist das ein sehr tröstlicher Gedanke. Es gibt heute so viele Ehen und Familien und auch gute Freundschaften, in denen Partner, Kinder, Freunde und Verwandte unseren Glauben nicht teilen. Das ist schmerzlich und ein bleibendes Gebetsanliegen. Aber wie schön und tröstlich ist es dabei, dass wir in der Hl. Edith Stein / Teresia Benedicta a Cruce ein so verständnisvolles Vorbild und eine so wunderbare Fürsprecherin an unserer Seite haben.

Dazu passt ein schönes, der Hl. Edith Stein zugeschriebenes Gedicht[15]:

Ohne Vorbehalt und ohne Sorgen

leg ich meinen Tag in Deine Hand.

Sei mein Heute, sei mein gläubig Morgen,

sei mein Gestern, das ich überwand.

Frag mich nicht nach meinen Sehnsuchtswegen –

bin aus Deinem Mosaik ein Stein.

Wirst mich an die rechte Stelle legen –

Deinen Händen bette ich mich ein.


[1]Vgl. Josef Arquer: Meditationen für jeden Tag. Bd. 11. Herren- und Heiligenfest II. Köln 1999. S. 87

[2]Geb. 1891. Zur Biographie vgl.: Andreas Uwe Müller, Maria Amata Neyer: Edith Stein. Das Leben einer ungewöhnlichen Frau. Biographie. 2. Aufl., Zürich/Düsseldorf 1998.

[3]Zu ihrem philosophischen Werk vgl.: Hanna-Barbara Gerl-Falkovitz: Unerbittliches Licht. Versuche zur Philosophie und Mystik Edith Steins. Dresden 2015.

[4]Hier das Karmeliterinnen-Kloster in Köln-Lindenthal.

[5]Das Wort „Konvertit“ ist zu Unrecht ein wenig negativ konnotiert. Es kommt vom lat. Wort conversio, Umkehr, was theologisch sehr gut auf den hier gemeinten Vorgang passt.

[6]Der Vater war früh verstorben, als Edith noch keine zwei Jahre alt war.

[7]Vgl. Arquer, a.a.O. S. 86.

[8]Ein schönes und sinnreiches Detail: Von beiden Heiligen gibt es am Petersdom (an der Außenseite) sehr gelungene lebensgroße Statuen.

[9]„Teresia“ nach der großen Heiligen von Avila; „Benedicta a Cruce“: die vom Kreuz gesegnete.

[10]So z.B. in ihrem Testament 1939; vgl. Gerl-Falkovitz, a.a.O. S. 256.

[11]Vgl. Arquer, a.a.O. S. 92f.

[12]Zu ihr sprach sie im Moment ihrer Verhaftung die berühmten Worte „Komm, wir gehen für unser Volk!“

[13]Die Seligsprechung von Edith Stein erfolgte 1987, die Heiligsprechung 1998. Sie wurde zudem zur „Patronin Europas“ ernannt, und man darf damit rechnen, dass sie auch zur „Kirchenlehrerin“ ernannt wird.

[14]Zit. nach Arquer, a.a.O., S. 92

[15]Ebd. S. 94 f.