(Bild: Blick von innen durch das „Richterfenster“ im Kölner Dom auf die Stadt)

Diese Vaterunser-Bitte geht uns oft nur deshalb noch von den Lippen, weil wir es nicht anders gewöhnt sind. Aber eigentlich geht sie ganz gegen den Zeitgeist. Artikel Eins der virtuellen Verfassung unserer Gesellschaft besagt schließlich: Ich mache was ich will! Keinem Götzen wird so viel geopfert wie dem Ego, aber nicht nur hier und jetzt, das ist fast eine Konstante der conditio humana.

Was ist mit unserer Freiheit?

Klar, auch in unserer freien und permissiven Gesellschaft unterwerfen wir uns ständig allen möglichen Zwängen und Zwecken, und unsere Freiheit ist leider oft mehr Anspruch und Bekenntnis als Realität: In der Arbeitswelt werden wir ständig genötigt und getrieben, im Straßenverkehr, im Konsumverhalten und oft sogar bei der Freizeitgestaltung. Trotzdem (oder gerade deshalb) steht unser eherner Anspruch: Ich mache was ich will…

Selbst wenn wir uns mit Kollegen, Freunden und in der Familie über etwas einig sind, sagen wir doch lieber: „OK, das sehe ich auch so!“ als „wenn Du es so willst…“. Zumindest der Anschein der eigenen Willensentscheidung muss möglichst gewahrt bleiben.

Freiheit und Wille Gottes

Aber hier, wo es um Gott geht (1), müssen wir genauer hinschauen: Hatten wir doch gerade (2) festgestellt, dass Gott uns nicht einfach wie Marionetten fernsteuert, obwohl ein allmächtiger Gott das könnte und ganz gut ohne unsere Entscheidung und Beteiligung klar käme. Wenn wir im Vaterunser also Gottes Willen den Vorrang einräumen, dann setzt das voraus, dass wir auch anders können, dass wir nicht genötigt und getrieben werden. Und dabei bleibt es – unser freier Wille wird ja mit der Bitte nicht abgegeben, sondern unser Ego hat immer wieder alle Möglichkeiten – weshalb wir guten Grund haben, manches auch immer wieder zu sagen (3). Schließlich wissen wir selbst, dass wir mit unserem Tun und Entscheiden unsere Ziele nicht immer erreichen; und manchmal erkennen wir sogar, dass unsere Ziele selbst nicht richtig waren. Der Unterschied zwischen „gut gemeint“ und „gut“ kann riesig sein.

Wenn wir also Gott bitten „Dein Wille geschehe“, dann haben wir verstanden, dass wir auch ohne ihn könnten, wir wollen aber, dass bei unserem Entscheiden und Tun nichts Schlechtes herauskommt, sondern es hier bei uns so gut geht „wie im Himmel“ – also in perfekter Harmonie, wie es eigentlich sein sollte.

Dieser Zusatz „wie im Himmel, so auf Erden“ ist eben nicht nur eine fromme Formel oder einem archaischen Weltbild geschuldet. Er zeigt vielmehr, dass es bei Gottes Willen nicht um Auftrumpfen wie in einer Ellenbogengesellschaft geht, eben gerade nicht um das Recht des Stärkeren.

Nicht das Recht des Stärkeren

Die Logik des Himmels ist anders: Wenn sie in unserem Leben hier „auf Erden“ wirkt, hebt sie die Nullsummen-Logik auf, gewinnen wir nicht nur auf Kosten der Anderen, verlieren wir nichts, wenn wir etwas geben. So wie Liebe und Freude mehr werden, wenn wir sie teilen, so wird unsere Freiheit größer, wenn wir um Gottes Willen bitten. In der noch immer geläufigen Redensart „um Gottes Willen“, die in der Regel einen Schrecken ausdrückt, verbirgt sich ein ursprüngliches Verständnis dieses Zusammenhangs.

Im unserer Alltagswirklichkeit sieht es leider oft anders aus, da kommt es uns so vor, als trete neben die vielen Ansprüche und Anforderungen, die ohnehin ständig an uns gestellt werden und die nicht selten mit unseren Wünschen und Hoffnungen konkurrieren, als Belastung auch noch ein Anspruch Gottes, der zusätzlich zu berücksichtigen wäre. Als Belastung empfinden wir das besonders dann, wenn wir Gott und seinen Anliegen gewohnheitsmäßig eher einen nachgeordneten Platz einräumen – nachdem wir uns um die wirklich „wichtigen“ Dinge, wie Einkommen, Ansehen, Wohlbefinden gekümmert haben. Viel zu oft leben wir parallel ein weltliches Leben „hier auf Erden“ (95%) und ein sonn- und feiertägliches geistliches Leben (5 %) – quasi „wie im Himmel“.

Recht verstanden führt uns die dritte Vaterunserbitte zu der Erkenntnis, dass wir erst dann zur Ruhe kommen, wenn wir unser Leben als Einheit leben (4), Gott nicht verdrängen, sondern ihn ernst nehmen, in kleinen wie in großen Dingen.

Das ergreifendste Beispiel dafür, was das selbst in extremsten Situationen bedeuten kann, finden wir bei dem selben Jesus, der uns das Vaterunser als unser Gebet gegeben hat: In seinem Beten im Garten Gethsemane (5).


Anmerkungen

1 Die dritte Bitte des Vaterunser schließt den Teil des Gebets des Herrn ab, der sich – wie die „erste Tafel“ der Zehn Gebote – mit den ganz großen Sachen befasst, die sich unserer unmittelbaren Anschauung entziehen und ihr allemal vorausgehen, mit Ewigkeit, Himmel, Gottesherrschaft. Und sie leitet über zu den irdischen Sachen, die uns hier täglich betreffen. Vgl. hierzu Joseph Ratzinger / Benedikt XVI.: Jesus von Nazareth, Bd. 1, Kap. 5.

2 Vgl. Beitrag zur zweiten Vaterunserbitte.

3 Die dritte Vaterunserbitte sagen wir implizit auch immer wieder uns selbst und erinnern uns damit an eine elementare Entscheidung.

4 Vgl. dazu Josémaria Escrivá de Balaguer: Freunde Gottes. 2. Aufl. Köln 1979, S. 45 ff. und passim.

5 Vgl. Mk. 14, 36.