In den letzten Tagen konnte ich an mir selbst etwas beobachten, was mit Pädagogik zu tun hat. Es sei mir gestattet, dazu ein wenig auszuholen. Meine Eltern hatten es mir ermöglicht, verschiedene Instrumente zu lernen. Im Grundschulalter war das Flöte, später spielte ich Klavier und auch etwas Gitarre und Ziehharmonika. 

Die beiden letztgenannten Instrumente beherrsche ich nur in bescheidenem Maße, während ich das Klavierspiel viele Jahre lang intensiv gepflegt habe. Als ich das Elternhaus verließ, gab ich das Klavierspielen auf – ein Piano nimmt man nicht einfach so mit. Dazu ist es zu groß und zu schwer.

Innerer Widerstand gegen Neues

Erst jetzt, Jahrzehnte später, steht mir wieder ein Klavier zur Verfügung. Nun versuche ich, mein verschüttetes Können wenigstens in Ansätzen zurück zu erobern. Dort anzuknüpfen, wo ich als junger Mensch aufgehört hatte, ist nicht möglich. Meine Finger sind nicht mehr so geschmeidig, die Erinnerung an Melodien und Bewegungsabläufe erstorben. 

Abgesehen davon sitzt im Kopf eines jeden Menschen, ob jung oder alt, eine Art stockkonservative „Herrschaft“, deren grundsätzliche Abneigung allem Neuen gilt. Sobald die Sinne einen unbekannten Bewegungsablauf, eine fremde Idee, eine neue Strategie wahrnehmen, formiert sich wildentschlossen eine mächtige Abwehrfront: WIR WOLLEN NICHTS DAZULERNEN, DENN WIR WISSEN UND KÖNNEN EH SCHON ALLES!

Zur Sicherung des eigenen Daseins ist nun einmal alles auf größtmöglichen Nutzen bei kleinstmöglicher Anstrengung aus. Billig und bequem soll das Leben sein, so verspricht es die Werbung, und so wünschen wir es uns. Leider erweist sich diese Hoffnung in der Praxis als trügerisch.

Ohne Fleiß keinen Preis

Ungeachtet des lautstarken Protestes in meinem Inneren habe ich mich ans Klavier gesetzt. Ich studierte drei einfache, hübsche Melodien ein – vor Jahrzehnten hätte ich darüber die Nase gerümpft und mich einer Sonate von Beethoven zugewandt. Aber dies kränkt mich nicht. Als Ersatz für die verlorengegangene Virtuosität lege ich mein ganzes Gefühl ins Tastenspiel und lausche entzückt auf die Töne, die meine Finger dem schwarzen Kasten entlocken. Und jetzt komme ich zur Sache, denn das Entzücken stellt sich durchaus nicht zuverlässig ein! An manchen Tagen verweigert es sich und schickt mir stattdessen seine beiden unartigen und hässlichen Schwestern, die Unzufriedenheit und die Übellaunigkeit.

Ärger kommt auf, wenn mit einem Mal die leichtesten Passagen aus unerfindlichen Gründen nicht mehr gelingen wollen. Wenn die Finger ständig danebengreifen und Akkorde so schräg klingen, dass selbst Stühle und Schränke aus den Fugen geraten. Nun stellen sich Zweifel ein: nicht nur an der eigenen Tüchtigkeit, sondern grundsätzlich am Sinn des Unterfangens. Wozu übt man sechs Tage lang fleißig, spielt fehlerlos am siebenten, wenn man am achten Tag dann wiederum alles vergessen zu haben scheint!

Beim schulischen Lernen ist es ähnlich

Jeder Lehrer fühlt in sich Ärger hochsteigen, wenn Schüler nach längerem intensiven Üben wieder genau dieselben Fehler produzieren, die man durch ebendieses punktgenaue Üben glaubte besiegt zu haben. Jede ehrgeizige Mutter könnte ausrasten, wenn der Sohn trotz täglicher Nachhilfe im fraglichen Bereich keine Fortschritte macht. Der Unmut ist zwar nachvollziehbar, aber kontraproduktiv. Kein Lernender kann sich seine Schwächen erklären – kein willig Lernender macht sie aus Nachlässigkeit. Fehler passieren, und der Schüler selbst grämt sich am meisten darüber.

Rückfälle auf tiefere Lernstufen sind ein natürliches Phänomen beim Lernen. Bleibt bei einem bestimmten Thema der Lernerfolg absolut aus, so zeigt die Leistungsverschlechterung an, was zu tun ist. Und zwar das: Lasse das Thema los! Lasse die Anstrengungen ruhen, befasse dich statt dessen mit etwas anderem!

Auf das Klavierspiel bezogen bedeutet das: Ich lege die Noten der betreffenden drei Melodien fort und spiele für eine gewisse Zeitlang etwas ganz anderes. Wenn ich dann nach Tagen die alten Stücke wieder hervorhole, werde ich zu meiner Überraschung feststellen, dass nun alles viel besser klappt.

Festhalten und Loslassen im Wechsel

Lernen ist kein linearer Prozess. Die Lernzuwächse hüpfen wie Kobolde mal hin, mal zurück. Zwar ist kontinuierliches Üben, sind Fleiß und Zielstrebigkeit die Fundamente für jeglichen Erfolg, doch auch das Üben will nicht einseitig übertrieben werden. Mit Gewalt kann man nichts erzwingen, das ist eine alte Weisheit. Wer in der Schulklasse oder zu Hause immer wieder dasselbe üben lässt, weil es doch nach so vielen Wiederholungen endlich klappen MUSS, riskiert damit, dass sich statt des Erfolges dessen Gegenteil einstellt. Widerwille und Verdrossenheit erzeugen beim Schüler eine Lernblockade. Er fixiert sich auf die Fehler, macht sie erst recht, fühlt sich schließlich als Versager. Widerwille und Missmut sind Lernverhinderer; wo sie erscheinen, muss man sie schleunigst vertreiben. Die Fixierung auf Fehler erzeugt falsche Verhaltensmuster. Sind erst einmal solche Lernblockaden entstanden, so lassen sie sich später nur noch schwer auflösen.

Mein Rat an alle, die mit Kindern lernen: Reiten Sie nicht auf schwierigen Passagen herum! Wenn nach vielem Üben vermehrt Fehler auftreten, so ist es höchste Zeit, etwas anderes tun zu lassen. Kompetenzen wachsen spiralförmig. Auf höheren Stufen kehren wir immer wieder zurück zu Altbekanntem, das wir dann besser beherrschen. Ein Schüler soll nicht perfekt sein müssen, ehe er die nächste Stufe erklimmen darf. Festhalten und Loslassen im Wechsel schafft gute Lernvoraussetzungen.