Mit dem Blick auf die Zukunft genügen weder Sehnsucht nach der goldenen Vergangenheit noch tolle Phantasien, um uns zu ermuntern. 

Allein die Annahme der eigenen menschlichen Realität bedeutet, in der Zeit zu leben, weil der Mensch ein zeitliches Wesen ist, und weil er – der christlichen Offenbarung zufolge – erst nach dem Tode, mit einem geheimnisvoll vergeistigten Leib, unzeitlich und unsterblich wird. Jetzt aber sind wir nur dann, was wir sein sollen, wenn wir uns in der Zeit wirklich einzuleben verstehen, das heißt, wenn wir geduldig sind.

Dem Geduldigen ist die Zeit kein Feind, auch wenn es vielen Menschen so scheint. Wenn wir sie geduldig fließen lassen, bringt sie uns über kurz oder lang nur das Gute. Man soll darum die Zeit lieben, trotz ihrer Langsamkeiten und unberechenbaren Wendungen, und sie niemals drängen, vergiften, beweinen, fürchten, verbrennen oder totschlagen. 

In der Zeit zu leben, bedeutet, sich dem göttlichen Rhythmus, „der die Sonne und die anderen Sterne bewegt“ (Dante), anzupassen, und dadurch die Neuheit und die Frische jedes Augenblickes auszukosten. Nur die Geduld ermöglicht die Bewertung der flüchtigen Stunde, denn die Geduld allein liebt die Zeit und weiß sich in ihr geborgen.

Die Künstlerin, durch die uns Gott gestaltet

Die Zeit modelliert uns, macht uns einzigartig, eben zu Personen: Jeder von uns ist in der Wiege eine Fülle von Möglichkeiten, eine unsichtbare Menge denkbarer Menschen; auf dem Sterbebett dagegen liegt ein einzigartiger Mensch, unwiderruflich bis ins letzte Detail gestaltet, unverwechselbar, ein durch die Zeit aufgebautes Unikum. 

Meine eigene Physiognomie ist ein Werk der Zeit, denn nur in der Zeit bin ich gezwungen zu wählen, zu reagieren, mich den verschiedenen Umständen, Menschen und Ereignissen anzupassen, dabei immer auf der Welle einer Bewegung zu sein, welche die Entwicklung meines Lebens keineswegs geradlinig, nach einem von mir geplanten Entwurf, vorwärtstreibt.

Die Zeit lädt mich zu einer ständigen Verfügbarkeit ein. Sie macht aus mir, was ich tatsächlich bin: ein sich verwirklichendes Geschöpf, das wartet, hofft, in aller Geduld und Bereitschaft zunimmt. „Des Menschen Engel ist die Zeit“, sagte Schiller.

Die aktive Wachsamkeit der Geduldigen

Es handelt sich aber dabei keineswegs um Passivität, auch wenn manche Leute – nicht nur die heutigen rastlosen Produktionsmenschen, sondern auch die alten griechischen Philosophen – eine solche existentielle Haltung verachtet haben, weil sie den Anschein eines bloßen Zurückbleibens oder eines kraftlosen Unterliegens erwecken könnte.

Die Geduld enthält vielmehr höchste Lebenskonzentration, sie ist Ausdruck der fruchtbarsten Wachsamkeit. Die echte Liebe blüht langsam, braucht Tage und Regen, Weinen und alltägliche Freuden, gemeinsam erfahrene dunkle Stunden, gegenseitiges Entdecken der Schwächen und deren Verzeihen. Die Enttäuschung vieler Ehepaare ist nur Ungeduld, ein Mangel an jener unerforschlichen Tiefe und Länge der menschlichen Lebensfülle.

Unser Herz ist langsam, wie auch unsere Vernunft, und es kostet Zeit, der Kindheit zu entwachsen, die ursprünglichen, schützenden Hüllen egozentrischer Haltungen abzulegen und sich als Erwachsener zu entpuppen, der bereit ist, Risiken einzugehen. Wir haben Eile, Gott kennt sie nicht. Er heißt auch in der Alten Schrift „der Langmütige, der Geduldige“.

Geduld – ein Zeichen der Reife

Die Geduld ist kein Schmuckstück der Seele, keine Tugend, die nur unter gewissen erdrückenden Umständen als gültig und sinnvoll zu bezeichnen wäre. Sie ist eine wesentliche, existentielle Haltung, so wichtig sogar, dass gut, gerecht und lebenstreu zu sein zugleich geduldig sein bedeutet. Der Gottmensch Christus ist die Geduld des alles überragenden göttlichen Lebens auf menschlichem Niveau, ganz in die Schranken der zeitlichen Existenz übertragen. 

Das dreißig Jahre lang schweigende ewige Gotteswort, das später – ohne Hast! – gesät wird, und das – auf Erden – teils die Vögel des Himmels aufpicken, teils die Dornen ersticken, und von dem nur ein kleiner Teil – durch Geduld! – Frucht bringt.

Die Wahrheit ist keine bloß intellektuelle Sache, die ein für allemal assimiliert werden kann, als handelte es sich um ein mathematisches Theorem. Die Wahrheit unseres Lebens müssen wir so gut wie möglich verstehen, aber obendrein müssen wir sie ganz unbedingt in der Zeit erleben, mit dem lebendigen Fluss der oft schmerzhaften Erfahrung kneten; und erst nach wiederholten Wechselfällen von Treue und Untreue, von Angst und Vertrauen, wird sie Fleisch unseres Fleisches. 

Wir aber haben Eile, und oft benehmen wir uns wie verwöhnte Kinder, die wie Kaligula von Anouilh „alles und sofort“ haben wollen: Zeichen der Unreife des Verstandes und der Liebe, eine naive Neigung zur Magie.

Es genügt nicht, das Wahre und das Gute bloß zu begehren, um es als fast „verdiente“ göttliche Gabe sofort zu empfangen. Nur durch Geduld werden wir unsere Seele besitzen, das heißt mit jener gemütvollen und gesunden Fähigkeit zu dulden, allerlei Unannehmlichkeiten zu ertragen, einen Schritt nach dem anderen zu machen, sich einmal und immer wieder vom Boden zu erheben, tausend und abertausend Mal Atem zu schöpfen, ohne Rebellion und barocke Gebärde. Eile mit Weile! Wir erschöpfen uns nicht, wir prägen uns langsam aus, mühsam, und durch unzählbare Eintönigkeiten.

Mittels der Geduld, der Tugend der Jugend, lernen wir das Graue, die Schalheit und die Monotonie unserer Existenz kennen und umarmen sie. Kein Beruf ist täglich erregend, interessant, anziehend. Wir alle haben uns viele Illusionen, übertriebene Hoffnungen in bezug auf große, angenehme Aufgaben und Arbeiten gemacht

  • der Medizinstudent, der von schweren Fällen und wunderbaren Heilungen geträumt hat, muss später als Arzt täglich nur Grippe und Verdauungsstörungen behandeln;
  • der junge Jurist, der sich schon brillante Plädoyers im Gerichtssaal halten sah, stöbert jetzt Tag für Tag in leblosen Papieren;
  • der Seminarist, der große Sünder zu bekehren dachte, hört als Priester fast immer nur die langweiligen vier oder fünf Sünden mittelmäßiger Gläubiger;
  • der Kaufmann muss tausend kleine Geschäfte abschließen, ehe er jene erwartete große Gelegenheit – die vielleicht niemals auftauchen wird – ergreifen kann;
  • die Hausfrau deckt zwei oder drei Mal pro Tag den Tisch, um ihn eine Stunde später wieder abzuräumen;
  • der Beamte beim Hauptbuch, der Arbeiter an der Maschine, der Forscher am Mikroskop …
  • Die Zeit verlangt von uns die Geduld als Hintergrund des Friedens, als Reife der Liebe, als Reinigung des Egozentrismus, als demütige Kraft, die unermüdlich gegen Lauheit und Schläfrigkeit des Geistes kämpft, ohne aber in einen voluntaristischen Titanismus zu fallen.

Geduld: die demütige Siegerin

Wir benötigen Geduld mit uns selbst, Geduld mit den anderen, Geduld mit Gott: immer handelt es sich um die Annahme unserer zeitlichen Verfasstheit. Geduld mit dem anderen zu haben, schrieb Bollnow, heißt, ihm Zeit zu lassen: Zeit zu reden, zu zahlen, zu erfahren, zu lernen, zu wachsen … Um Verständnis und Vergebung der Vergangenheit sowie um Vertrauen zur Zukunft zu bitten, drückt sich oft und richtig so aus: „Habe Geduld mit mir!“ Jetzt können wir auch verstehen, dass die Geduld die wichtigste Tugend jedes Erziehers ist.

Die Geduld mit sich selbst, die Fähigkeit, abzuwarten, hat Augustinus „Geduld der Armen“ genannt. 

„Geduld der noch Glaubenden, noch nicht Schauenden; der noch Hoffenden, noch nicht Haltenden; der in Sehnsucht Seufzenden, noch nicht in Glück Herrschenden; der noch Hungernden und Dürstenden, aber noch nicht Gesättigten: dieser Armen Geduld wird nie verloren gehen!“ 

Das Böse im Menschen ist vielleicht darum nichts anderes als Ungeduld, und das Gute – im Einklang mit unserem menschlichen Entwurf – ist nichts anderes als Geduld: lächelnd und im Schweiße arbeiten, eine Stufe nach der anderen nehmen, ohne Hast die lange, schmale und steile Lebenstreppe hinaufsteigen, bis zu jenem Gipfel, der uns zugewiesen ist.

Die natürliche Übereinstimmung der Frau mit dem Leben überhaupt prägt die Geduld als frauliche Eigenschaft, die aber keineswegs die Männer entbehren dürfen. Und vielleicht ist in diesem Sinne das Wort Katharinas von Siena zu deuten: „Die Geduld siegt immer, sie wird niemals geschlagen und bleibt immer Frau.“

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Johannes B. Torelló
* 7. November 1920 in Barcelona; † 15. August 2011 in Wien - war ein aus Spanien stammender österreichischer Geistlicher und römisch-katholischer Theologe sowie weltbekannter Neurologe und Psychiater. - Zahlreiche Werke über Themen des Grenzgebietes Psychiatrie-Seelsorge-Spiritualität. Mehrmals übersetzt wurden zwei Bücher: „Psicanalisi e confessione“ und „Psicologia Abierta“ (auf Deutsch ursprünglich als Essays in der Wiener Monatsschrift „Analyse“ erschienen). Andere Titel von Vorträgen, Aufsätzen usw.: Medizin, Krankheit, Sünde; Zölibat und Persönlichkeit; Was ist Berufung? Die Welt erneuern (Laienspiritualität); Über die Persönlichkeit der ungeborenen Menschen; Erziehung und Tugend; Glauben am Krankenbett; Arzt-Sein: Soziale Rolle oder personaler Auftrag? Die innere Strukturschwäche des Vaters in der heutigen Familie; Echte und falsche Erscheinungen; Schuld und Schuldgefühle; Die Familie, Nährboden der Persönlichkeitsentwicklung; Neurose und Spiritualität; Über den Trost; Lebensqualität in der Medizin.