„Ich habe keine gute Zeit hinter mir und weiß es vielleicht erst seit einem gewissen kleinen Erlebnis, das ich vor drei Tagen hatte … Ich hatte mich nicht in der Hand, o wie gar nicht hatte ich mich in der Hand! Krank fühlte ich mich von innen heraus, aber es war nicht mein Körper, ich kenne meinen Körper zu gut. Es war die Krise eines inneren Übelbefindens. Ganz kleine sinnwidrige Regungen von Unlust waren diese frühen Anwandlungen gewesen, ganz unbedeutende, fast dauerlose Verkehrtheiten und Unsicherheiten des Denkens oder Fühlens, aber freilich etwas ganz Neues in mir.“

„Zuweilen kam es des Morgens, in diesen deutschen Hotelzimmern, dass mir der Krug oder das Waschbecken, – oder eine Ecke des Zimmers mit dem Tisch und dem Kleiderständer, so nicht-wirklich vorkamen, gar nicht wirklich, gewissermaßen gespenstisch, und zugleich provisorisch, wartend, sozusagen vorläufig die Stelle des wirklichen Kruges, des wirklichen mit Wasser gefüllten Waschbeckens einnehmend.“

„Hier war es, kann man sagen: ein Gespenst. Es ging von seinem Anblick ein leichter unangenehmer Schwindel aus, aber kein körperlicher. Ich konnte dann ans Fenster treten und ganz dasselbe mit drei oder vier Droschken erleben, die an der anderen Straßenseite standen und warteten. Sie waren Gespenster von Droschken. Es verursachte eine fast dauerlose leichte Übelkeit, sie anzusehen: es war wie ein momentanes Schweben über dem Bodenlosen, dem Ewig-Leeren … Oder auch ein paar Bäume, diese dürftigen, aber sorgfältig gepflegten paar Bäume, die sie hier und da auf ihren Squares zwischen dem Asphalt, geschützt mit Gittern, stehen haben. Ich konnte sie ansehen und wusste, dass sie mich an Bäume erinnerten – keine Bäume waren -, und zugleich zitterte etwas durch mich hin, etwas, das mir die Brust entzwei-teilte wie ein Hauch, ein so unbeschreibliches Anwehen des ewigen Nichts, des ewigen Nirgends, ein Atem nicht des Todes, sondern des Nicht-Lebens, unbeschreiblich.“

„Dann kam es auf der Eisenbahn, öfter und öfter …: Kleine Stadt links oder rechts vom Gleis, oder Dorf oder Fabrik, oder die ganze Landschaft, Hügel, Felder, Apfelbäume, verstreute Häuser, alles in einem; das nahm ein Gesicht an, eine eigene zweideutige Miene so voll innerer Unsicherheit, bösartiger Unwirklichkeit: so nichtig lag es da – so gespensterhaft nichtig – mich hat nie vor dem Tod gegraut, aber vor dem, was da wohnt, vor solchem Nichtleben grauts mich … Dass mein Übel europäischer Natur war, dessen wurde ich mir … im gleichen Augenblick bewusst, als ich innewurde, dass es sich nun aufs Innere geschlagen hatte, dass ich nun, ich selber, mein inneres Leben, so unter diesem bösen Blick lag wie in den früheren Anwandlungen jene äußeren Dinge. Durch tausend wirre gleichzeitige Gefühle und Halbgefühle schleifte sich mein Bewusstsein ekelnd und schwindelnd hin.“

Man könnte annehmen, diese Sätze wären aus einem Roman J. P. Sartres herausgerissen, aber sie wurden 1907 geschrieben: von Hugo von Hofmannsthal, einem Vorläufer des Existentialismus. Diese Betrachtungsweise des menschlichen Daseins – deren größter Verkünder der Schwarzwälder Professor Martin Heidegger gewesen ist – erreichte erst Popularität, als die Franzosen sie auf die Ebene des Romans und des Dramas übertrugen.

Allgegenwärtige Angst

Seither hat die Angst die geistige Landschaft unseres Zeitalters wie eine riesige Woge überflutet, so dass sie als „Ära der Angst“ bezeichnet worden ist. Diese Angst ist kein exquisites Gefühl einiger feinnerviger Geister, deren überempfindliche Seelen sie als „mal de siécle“ für das Zeitalter der Technik empfunden haben.

Vor allen anderen begegnet dem Arzt täglich dieses Gespenst der Angst – in mannigfachen Tarnungen – bei seinen Patienten: Während des letzten Weltkrieges waren in Amerika die Hälfte aller Betten in Militärspitälern von Angstneurotikern besetzt, und auch nach dem Krieg verursacht die Angst fast im selben Ausmaß immer noch zahlreiche sogenannte psychosomatische Krankheiten.

Bekannte Soziologen und Psychiater meinen, dass die Angst in unserer Zeit nicht zugenommen hat, wohl aber die Zahl der Menschen, die aus diesem Grund einen Arzt – den säkularisierten Seelsorger – aufsuchen. Stimmt aber Weizsäckers berühmtes Schlagwort – „Krank ist jeder Mensch, der zum Arzt geht“ -, so ist immerhin anzunehmen, dass die Menge der beängstigten Menschen ungeheuer groß ist.

Und die Angst taucht wirklich überall auf: sei es in Form stürmischer Krisen, die plötzlich das Familien- und Berufsleben und die gesellschaftlichen Beziehungen erschüttern, sei es in Kleinigkeiten des Alltags, die oft unbemerkt bleiben – ein zu harter oder zu weicher Händedruck, nervöses Kettenrauchen von Zigaretten, ein Zucken der Muskeln im Gesicht, Stottern oder Stocken mitten im Gespräch, das Zittern dieses Lächelns, fast Grimasse …

Es gibt offene Ängste, die man als lähmende Furcht vor der Zukunft oder vor dem Krankwerden fühlt; zwanghafte Ängste, die an bestimmten Orten ausbrechen oder die sich an bestimmte Gegenstände oder harmlose Tiere geheftet haben: Räume, offene Plätze, Dunkelheit, Zugreise, Blut, spitze Gegenstände, Menschengedränge, Spinnen, usw. Es gibt Angst vor dem Altern, der Fettleibigkeit, dem Krebs, den Frauen, den Kindern, dem beruflichen Misserfolg, der Ehe, den verantwortlichen Entscheidungen. Es gibt Angst vor staatlichen und kirchlichen Behörden und Angst vor der Unternehmensleitung. Es gibt Angst vor dem Unbekannten, Angst vor der Geisteskrankheit und Angst vor der Angst.

Angst vor der Leere

Viele Männer und Frauen unserer Zeit erklären, sie hätten keinen Angstzustand erlebt, sie fühlten sich bloß erschöpft, übermüdet, deprimiert; sie bezeichnen sich als „labil“ oder leiden an Asthma, Magengeschwüren, Hautentzündungen. Wenn der Arzt diese Menschen untersucht – vielleicht im Verlauf einer einfachen Psychotherapie – taucht die Angst ganz offen auf, ja wie ein panischer Sturm.

Die stets wachsende Zahl von Kranken, die nur noch über die leere, langweilige Sinnlosigkeit ihrer Existenz zu klagen wissen, lässt keinen Seelenarzt mehr daran zweifeln, dass das Krankheitsbild, das man Langweiligkeitsneurose oder Neurose der Leere nennen könnte, die Neurosenform der unmittelbaren Zukunft ist (Boss).

In der Tat ist die Angst immer Angst vor der Leere, vor allem der inneren Leere. Kein Gemütszustand ist so schmerzlich lähmend und trostlos, kein Gemütszustand birgt eine solche Belastung von Unausweichlichkeit und Ohnmacht. Und gerade das sind Erscheinungen, die den strebenden und übertätigen Menschen unseres Jahrhunderts am meisten erniedrigen und leiden lassen.

Dem modernen technischen Rationalismus scheint die Angst sinnlos – wegen ihres Übermaßes an Emotion, wegen ihrer zerstörerischen Macht, die sie auf jede Vitalität ausübt, wegen ihres Mangels an verständlichem Inhalt und an objektiver Motivierung.

Jede vernünftige Rede erweist sich der Angst gegenüber als völlig kraftlos: Sie beklemmt das Herz, gleitet über den Rücken, galoppiert im Hirn, drückt wie ein Stein die Brust, zwingt zum Schreien oder zum erschreckten Verstummen.
Sie wirkt gespenstisch und zugleich überzeugend. Sie wirkt wie eine ernste Ermahnung, wie ein formloses, aber auf das Zentrum des Lebens sich beziehendes Urteil, unbarmherzig und unbegreiflich wie Kafkas Prozess, klebrig und unentrinnbar wie Sartres Ekel. Sie erhebt sich aus dem Heideggerschen Nichts, das uns umfasst, das aus keinem Ort kommt, das keine Räumlichkeit und keine Festigkeit besitzt.

Bei der Furcht fürchtet man etwas. In der Angst zerrinnt jedes Etwas, und dieses Schwinden öffnet den Abgrund des Nichts.

Wer dieses kalte Hier-Sein der existentiellen Leere wahrnimmt, spürt, dass etwas Wesentliches im eigenen Leben versagt hat, dass ein totaler Untergang herannaht. Frankl spricht von der Angst als von einer Warnung der „existentiellen Frustration“. Deshalb ist die wahre Angst immer Angst vor der Angst, fürchterliche Erwartung einer ängstlichen Überflutung, die die persönliche Existenz als Ganzheit bedroht.

Geborgenheit inmitten der Ungewissheit

Freud führt jede Angst zu jener der Geburt zurück, die zum Teil von sekundären Intoxikationen, zum Teil vom Verlust der Geborgenheit im Mutterschoß verursacht sein soll. Diese typisch positivistische Deutung – die die Vergangenheit immer als Hort der Ursachen betrachtet und jedem menschlichen Vorgang eine körperliche Ursache zuschreibt – enthält trotz der ihr zu Grunde liegenden längst überholten Mentalität den Kern einer unbestreitbaren Tatsache: Die Angst tritt dort auf, wo Geborgenheit fehlt.

Wo hingegen Geborgenheit wirkt – besonders mütterliche Wärme -, da öffnet sich das Kindesdasein in Vertrauen, da entfalten sich seine Lebensmöglichkeiten, sogar im körperlichen Bereich. Wenn diese mütterliche Liebe zum Kind aber eine ichhaftige Prägung zeigt, eine besitzgerichtete, nicht restlos hingebende Haltung verrät, schränkt sich das Kindesdasein ein – und diese Einengung ist schon Angst. Angst kommt vom lateinischen „angustia“, was eben Einengung bedeutet.

Jene absolut notwendige mütterliche Geborgenheit hat mit der Mutterbindung der Erwachsenen nichts zu tun. Aus der ersten Geborgenheit soll der Mensch in die Selbständigkeit, in die Selbstverantwortung hinaustreten, das Leben aus eigener Kraft in die Hand nehmen, damit die Reifung erreicht wird: eine manchmal beiderseits schmerzliche Befreiung, die aber keineswegs zur Ungeborgenheit führt, sondern zu einer neuen, sogar durch Angstkrisen erworbenen Geborgenheit im gewagten, freien Kontakt mit der Welt, die das Erlebnis des „Geworfenseins“ allein überwinden kann.

Jores meint, die Geborgenheit liege nicht nur an einer vertrauten äußeren Umgebung, sie sei auch gegeben durch das Wissen um eine Ordnung, in der man steht, durch die Ausrichtung unseres Lebens nach höheren, nicht von uns selbst bestimmten Zwecken und Gesichtspunkten, sagen wir schlicht: durch einen Glauben.

Das falsche Bild von Gott

Daraus ergibt sich, dass der angstneurotische Mensch keinen „echten“ religiösen Glauben besitzt, dass er sich ein falsches Gottesbild gemacht hat, wie dies nicht wenige Psychiater entdeckt haben.

Es handelt sich um einseitige Gottesideen. Gott als „absoluter Herrscher“, als „Willkürgott“, als Tyrann in unerreichbarer kalter Ferne, dem menschliche Sorgen und Mühen ganz gleichgültig sind und der einige Menschen kaltblütig zur ewigen Verdammung vorherbestimmt, während er andere völlig grundlos als seine Lieblinge behandelt; oder Gott als Gesetzeshüter, als kleinlicher Buchhalter, der pedantisch Soll und Haben einträgt und eine erbarmungslose Bilanz zieht; oder schließlich – wie es in unserer säkularisierten Welt sehr oft der Fall ist – die göttliche Vollmacht auf den Staat, einen Führer, auf die Wissenschaft übertragen.

Jede verabsolutierte Geistigkeit, die das Gesetz der Inkarnation nicht beachtet bzw. die Lebenseinheit von Körper und Seele, Person und Gesellschaft, Himmel und Erde, Gott und Mensch vergisst, raubt dem Menschen seine existentielle Geborgenheit und erzeugt Angst.

Dass sich der moderne Mensch besonders ungeborgen fühlt, ist auch aus kulturellen und sozialen Gründen erklärbar, die die amerikanische Analytikerin Karen Horney scharfsinnig beschrieben hat: Außer der Kollektivierung unserer Epoche (seit langem hat Jaspers auf sie hingewiesen), die zur Entpersonalisierung führt, außer der Bedrohung durch atomare Vernichtung der Menschheit, erregen vielerlei Ängste das Konkurrenzklima unserer industrialisierten Kultur, die die menschliche Existenz überspannt, Erfolg und Wohlfahrt mythologisiert und die Menschen Tag für Tag anspruchsvoller macht – mit der damit verketteten panischen Angst vor dem Versagen, vor jeder Krankheit, Widerwärtigkeit, Frustration, vor jedem Unglück.

In einer solchen Atmosphäre ist jeder Mensch realer oder potentieller Feind des Nächsten. Daher das Gefühl der Einsamkeit, Kontaktlosigkeit, Entfremdung, das eine gewisse Filmographie kühn und dramatisch dargestellt hat (Ingmar Bergman „Das Schweigen“, Federico Fellini „8 1 /2“, Michelangelo Antonioni „Liebe 62“). Aus diesem trockenen Angstboden wächst das unbegrenzte Liebes- und Sicherheitsbedürfnis des „neurotischen Menschen unserer Zeit“.

Nur die Liebe überwindet die Angst

„Die Neurose entsteht, wo die Angst nicht ertragen wurde“, sagt Häfner drastisch. Die Neurose wäre, in diesem Sinne, ein Versuch, der Angst zu entfliehen: Statt die eigene Verantwortung zu übernehmen, die zur liebevollen Entfaltung in der Welt führt mittels der gewagten Ausnützung der menschlichen Lebensmöglichkeiten, versucht der Neurotiker, das eigene Ich zu panzern, den eigentlichen Ruf der Angst überhörend, mittels einer Einengung des Daseins bzw. des In-der-Welt-Seins (Boss), d.h. mittels des Verzichts auf ein wirkliches Mensch-Sein (Gebsattel).

Sehr wenige Menschen verstehen die Kunst, die Früchte der Angst-Erfahrung zu ernten. „Zahllose Menschen verhalten sich in ihren Todesängsten ungefähr so, als gliche ihr Wesen der alten Haut einer sich eben häutenden Schlange. Aus der Sicht der zu eng gewordenen, platzenden und zu Grunde gehenden alten Schlangenhaut ist allerdings die Häutung ein katastrophales Ereignis, das diese Schlangenhaut, könnte sie vom ganzen Schlangenwesen nichts anderes als sich selbst erfassen, mit gutem Grunde als endgültigen Untergang zu fürchten hätte. Und doch ist für die Schlange als solche und im ganzen der Häutungsvorgang das Gegenteil eines Sterbens, ist ein Raumschaffen für ihr Wachsen und Reifen“ (Boss).

Die Angst zu überwinden, ist keine Tat des Starkmutes. Es geht vielmehr darum, ihren tiefen Ruf zu erkennen, die Götzen, die die Existenz tyrannisieren und von ihren Zielen ablenken, zu zerstören, sich von scheinbaren Lokalisierungen der Angst nicht täuschen zu lassen und vor allem eine restlos hingegebene, liebevolle Art und Weise des In-der-Welt-Seins aufzunehmen. Jede gute Behandlung der Angst muss gerade in dieser tiefsinnigen Liebes- und Vertrauensgemeinschaft bestehen, in der Erfahrung einer „neuen Geborgenheit“ (Bollnow), die allein imstande ist, alle Einengungen zu sprengen und den Menschen zur breiten Luft der Freiheit, der Verantwortung, des Kontaktes mit der Welt, der Begegnung mit dem echten Du zu geleiten: die Liebe, die stärker ist als der Tod.

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Johannes B. Torelló
* 7. November 1920 in Barcelona; † 15. August 2011 in Wien - war ein aus Spanien stammender österreichischer Geistlicher und römisch-katholischer Theologe sowie weltbekannter Neurologe und Psychiater. - Zahlreiche Werke über Themen des Grenzgebietes Psychiatrie-Seelsorge-Spiritualität. Mehrmals übersetzt wurden zwei Bücher: „Psicanalisi e confessione“ und „Psicologia Abierta“ (auf Deutsch ursprünglich als Essays in der Wiener Monatsschrift „Analyse“ erschienen). Andere Titel von Vorträgen, Aufsätzen usw.: Medizin, Krankheit, Sünde; Zölibat und Persönlichkeit; Was ist Berufung? Die Welt erneuern (Laienspiritualität); Über die Persönlichkeit der ungeborenen Menschen; Erziehung und Tugend; Glauben am Krankenbett; Arzt-Sein: Soziale Rolle oder personaler Auftrag? Die innere Strukturschwäche des Vaters in der heutigen Familie; Echte und falsche Erscheinungen; Schuld und Schuldgefühle; Die Familie, Nährboden der Persönlichkeitsentwicklung; Neurose und Spiritualität; Über den Trost; Lebensqualität in der Medizin.