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Da Welt und Leib miteinander unaufhörlich Zwiegespräch halten, nimmt der Leib jene Form an, die der Umwelt entspricht. So lässt die starre Unbeweglichkeit gewisser Geisteskranker – in der Fachsprache als „Katatonie“ bezeichnet – sich als Leibesform und Leibeshaltung deuten, die einer Welt entsprechen, in der Richtung, Zweck und Sinn verlorengegangen sind. Alles, was uns sogenannten Durchschnittsmenschen auf dieser Welt begegnet, erscheint als irgendwie sinnvoll und nützlich: Die Rose in der Vase nehmen wir als ein Zeichen der Zärtlichkeit und der Liebe oder als Dekorationselement für ein Zimmer. Wir sehen nicht nur, wie sie aufblüht, wir rechnen auch, wie lange sie noch frisch bleiben wird.
Interdependenz von Welt und Leib
Der „Katatone“ aber lebt in einer Welt, in der alles stehengeblieben ist, in der die Zeit nicht mehr verrinnt. In diesem Raum ohne Zeit ist alles sinnlos, zwecklos, überflüssig, unverständlich, unwahrscheinlich geworden. Und der dieser Situation entsprechende katatonische Menschenleib ist absolut unbeweglich und steif wie eine Statue in einem Kuriositätenmuseum: Auch wenn man ihn in eine völlig unnatürliche Haltung bringt, harrt er stunden-, ja tagelang in dieser Haltung aus, ohne auch nur den geringsten Widerstand zu leisten. Manchmal ist diese Starre des Leibes Zeichen für die Verachtung des Leiblichen und Irdischen, da diese Kranken sich in einer „anderen“, „erhabeneren“ Welt „bewegen“: Der Welt des deskarnierten Geistes, der Welt des „Eschatons“ (der an der äußersten Grenze befindlichen Zeit).
Auf dem entgegengesetzten Ufer des pathologischen Lebensstroms befinden sich die Menschen, deren Welt allzu rasch vergeht, in der alles funkelt, vibriert und glüht, sich mit atemberaubender Schnelligkeit bewegt, ändert, unter zahlreichen erregenden, euphorischen oder beängstigenden Erscheinungen. Der Menschenleib zeigt sich entsprechend beweglich. Zittern, Tics, zwanghafte Wiederholungen der gleichen Bewegung (Stereotypien) usw. oder einfach eine allgemeine Lebensunruhe, Beschleunigung normaler Bewegungen, eine motorische Aufregung in allen Bereichen des Lebens entwerfen das Bild einer rastlosen Existenz auf der Ebene des Leibes.
Oder das Bild des Reifenden: Der pubertäre Leib mit seinen Ungleichförmigkeiten und pausenlosen Bewegungen zeugt von Unsicherheit, Rastlosigkeit, schöpferischen Möglichkeiten in einer bunten und wirren, inneren und äußeren Welt des Jugendlichen. Eine leiblich und seelisch verwirklichte existentielle Krise.
Ursachen der Rebellion in der Adoleszenz
Die Adoleszenz im weitesten Sinne des Wortes, der Lebenszeitraum also zwischen Pubertät und dem 20. Lebensjahr, stellt – wie C. Bühler und die Amerikaner meinen – jene Krise dar, in der der Mensch das seelisch-leibliche Ich zugleich mit einer anziehenden Umwelt entdeckt und ein affektives Durcheinander hervorbringt. Der Spiegel wird dann besonders bedeutsam: Man beobachtet unermüdlich den eigenen Leib, in der Angst vor möglichen Missbildungen und Lächerlichkeiten (jedes Kleidungsstück wird – auf Grund der kontinuierlichen körperlichen Entwicklung – als unerträglich empfunden), und die erotische Durchdringung aller Wahrnehmungen verursacht Hemmungen, Nervosität, unkontrollierte Bewegungen.
Das eben entdeckte Ich, durch eine ungeahnte Zahl verantwortlicher Entscheidungen unsicher gemacht, fühlt sich oft verlassen und einsam, sehnt sich nach Geborgenheit und fürchtet sich vor einer Gesellschaft, in der es eine noch ungeklärte Rolle spielen soll. Das Ich erfährt, was Rudolf Allers als „allgemeine Unruhe vor dem Universum“ bezeichnet hat.
Und gerade diese Unruhe ist es, die die bekannte Rebellion der Adoleszenz gegen Tradition, Autorität, Familie und ältere Generation hervorruft. Man neigt zu drastischen Stellungnahmen, Haltungen und Meinungen, zu revolutionären Umwälzungen in jedem Lebensbereich. „Das Kleid von Erika ist entsetzlich“, „Theodor ist ein Vollidiot“, „Alle Männer sind egoistisch“, „Alle Frauen sind dumm“, „Die Alten sind unerträgliche Heuchler“, „Mein Freund bildet die einzige Ausnahme“, „Alles muss geändert werden“.
Die Außenwelt – nicht mehr die Familie – wird als Ort der Selbstbehauptung und Entwicklung empfunden: Nonkonformistischer Fortschritt wird zum Idol, statische Bewahrung wird abgeschrieben; das Verbotene und Geheime wird bewundert und begehrt. Eltern, Pädagogen und ernsthafte Persönlichkeiten betrachten diese „unruhige Phase“ der Adoleszenz mit Beklemmung und Angst, beklagen sie, benehmen sich ungeschickt und neigen zu negativ-unrealistischer Beurteilung. Sie übersehen die ungeheuren Lebensmöglichkeiten, die in so vielen widerspruchsvollen Erscheinungen zum Ausdruck kommen.
Wissenschaftsaberglaube
Hier soll aber nicht ein Lebensalter beschrieben werden, sondern ein Zeitalter: Das Zeitalter des Fortschrittsglaubens, der entfesselten Erotik und der nachkonziliaren Auswüchse. Handelt es sich tatsächlich um eine „neurotische“ Zeit? Sollte man nicht eher an eine hoffnungsvolle Adoleszenzkrise des Abendlandes denken, bei der fast alle der oben genannten pubertären und nachpubertären Erscheinungen zu beobachten sind, die sich den Symptomen der „Katatonie“ völlig entgegensetzen?
Wenn man die plötzliche Beschleunigung des Zeitablaufes bedenkt, die unser Jahrhundert seit der Erfindung der Dampfmaschine, der Anwendung der Elektrizität, des Erdöls und letztlich der Atomenergie erfahren hat, kann man durchaus verstehen, wie sehr sich auch unsere Erfahrung geändert hat. Tausende Jahre lang ist der Mensch zu Fuß gegangen. Seit der Entdeckung des Rades bewegte er sich mit Pferdegeschwindigkeit. Im Laufe eines einzigen Jahrhunderts hat er sich von dieser zur Überschallgeschwindigkeit gesteigert: Er konsumiert Kilometer, Raum, Situationen, Erlebnisse, Lüste … Darüberhinaus empfängt er Nachrichten, sieht die Ereignisse in den entferntesten Winkeln der Welt vor sich; Presse, Kino, Fernsehen, Massentourismus überschwemmen seinen Lebensraum. Dieses beschleunigte und infolgedessen auch qualitativ völlig veränderte Zeiterlebnis – das die Adoleszenz von der Kindheit unterscheidet – berauscht und bezaubert den heutigen Menschen, macht ihn trunken von Fortschritt, Technik, Entwicklung und Evolution.
Er sieht nur die „ungeheuren Möglichkeiten“, die er auf Grund der gesteigerten Potentialität vor sich hat, „wenn er von der noch verfügbaren Zeit Gebrauch macht“ (Teilhard de Chardin). Aber dieses Wenn, das schließlich bestimmt, was wirklich geschieht, entscheidet sich nicht auf dem Feld der Evolution, sondern der Geschichte, das heißt der Freiheit und der Verantwortung, in welchen auch das Böse gemeint und wirksam sein kann (Josef Pieper).
Der Glaube an Fortschritt, Technik und Evolution ist zum Aberglauben geworden: Der Aberglaube des Marxismus, des Evolutionismus, des Technizismus, die ohne „Prophetie“ ein optimistisches Bild der Zukunft entwerfen möchten.
„Da Massenordnung nur durch Technik, Technik nur durch Wissenschaft möglich ist, herrscht in unserem Zeitalter ein Glaube an die Wissenschaft. Da aber Wissenschaft allein zugänglich ist durch methodische Bildung, das Staunen vor ihren Resultaten noch kein Teilnehmen an ihrem Sinn ist, so ist dieser Glaube Aberglaube. Eigentliche Wissenschaft ist das Wissen mit dem Wissen des Weisen um die Grenzen des Wissens. Wird aber an ihre Resultate geglaubt, die nur als solche, nicht in der Methode ihres Erwerbs gekannt werden, so wird im imaginären Mitverstehen dieser Aberglaube zum Surrogat echten Glaubens.
Man hält sich an die vermeintliche Festigkeit wissenschaftlicher Ergebnisse. Die Inhalte dieses Aberglaubens sind: Ein utopischer Sachverstand von allem, das Machenkönnen und die technische Meisterung jeder Schwierigkeit, Wohlfahrt als Möglichkeit des Gesamtdaseins, der Demokratie als des gerechten Weges der Freiheit aller durch Majoritäten, überhaupt der Glaube an Denkinhalte des Verstandes als an Dogmen, die für schlechthin richtig gelten.
Die Macht dieses Aberglaubens befällt fast alle Menschen, auch die Gelehrten. Sie scheint im Einzelfall überwunden und ist doch immer da; sie reißt den Abgrund auf zwischen dem Menschen, der ihr verfällt, und der kritischen Vernunft eigentlicher Wissenschaftlichkeit.“ Diese fast prophetischen Worte Karl Jaspers’ in seinem 1931 erschienenen Buch „Die geistige Situation der Zeit“ sind heute noch immer aktuell und – trotz einer einst skeptisch-schwankenden Haltung gegenüber Fortschritt, Wissenschaft und Evolution – sogar auf „moderne“ Theologen anwendbar.
Dieser Aberglaube aber schlägt – seit dem Altertum – immer wieder in Misstrauen gegenüber Wissenschaft und Technik um; in Misstrauen, das sich auf Mächte verlässt, welche eben diese Wissenschaft negieren: Astrologie, Spiritismus, Hellsehen, Okkultismus, Rauschgift, usw. Der Fortschrittsglaube ist dem Schwindlertum wahlverwandt.
Pubertät eines Weltzeitalters
Der Adoleszent betrachtet sich unaufhörlich. So hat sich auch unsere Zeit in allerlei Tiefenpsychologie verliebt. So soziologisierten sich unsere Kenntnisse. So tauchte auf Grund der Erfahrung vom beschleunigten Zeitverlauf in allen Wissensgebieten die „historische“ Betrachtungsweise auf. Die Beobachtung des eigenen Leibes und die „erotische Prägung“ aller pubertären Wahrnehmungen geben einem Lobpreis des Leibes Raum, führen zur öffentlichen Entfesselung der Sexualtriebe, ja begründen bei manchen Theologen die „neue Wertschätzung des Geschlechtlichen“ in der Ehe, die Zweifel am Zölibat, die betonte Autonomie und Selbständigkeit des Weltlichen.
Die postkonziliäre Zeit zeigt alle Symptome pubertären Wachstums: Die organisierte Sucht nach Strukturwandlung, die den Geist übersieht, der alles neu macht und der vor allem eine innere Bekehrung fordert und ermöglicht; fanatischer Formalismus, der stürmisch nach Umgestaltung aller dogmatischen, sittlichen, seelsorglichen, liturgischen Erscheinungen strebt und sich mit einer solchen „Beschäftigungstherapie“ (Kardinal König) begnügt; alberne Bewunderung von Außenstehenden, die sich nicht selten ob solcher „paternalistischer Haltung“ gekränkt fühlen, und die wohl nie einer Wiedervereinigung zustimmen würden, wenn sie die Lieblosigkeit gegenüber den „nicht-getrennten Brüdern“ sähen und die Missachtung, ja Verachtung erkennen könnten, die den engsten Familienmitgliedern gezollt wird; der übermäßig betonte Trend zu „Demokratie“, „Kollegialität“, „Gemeinschaftsleben“, wobei das entscheidende Gekreuzigt-Werden mit dem gehorsamen, ja bis zum Tode gehorsamen Christus in den Hintergrund rückt, und die „Beziehung zwischen dem inneren Meister und der Seele“ (Augustinus) vernachlässigt wird; der Rausch vieler Pazifisten, die ohne fremde Intervention im letzten Weltkrieg vielleicht noch heute marschieren und einen Mann und ein Volk besingen würden; die Begeisterung vieler Priester und Ordensleute für das „Aggiornamento“, das einem echten katholischen Laien nie eingefallen wäre, weil er stets mit der Welt zusammenwirkt und vorwärtsschreitet.
All das kann für eintönig gehalten, als „schon erlebt“ abgetan werden: Naivität, einseitige Übertreibung, Ikonoklasmus, Drang nach Erneuerung und Revolution, Liebelei und Weltentzückung des Adoleszentenzeitalters. So weit, so gut. Wenn man diese Erscheinungen nur nicht alle en bloc ablehnt oder gar als Verrat beurteilt und verurteilt. Nutzlos die Sehnsucht nach den ruhigen, guten alten Zeiten, schädlich die Aufregung und das Skandal-Getue: Man muss die Möglichkeiten dieses Übergangszeitalters erkennen, die „Zeichen der Zeit“ fühlen und vernünftig deuten, ruhig das Steuer des eigenen Selbst ergreifen und die Elastizität des wahren Geistes erlernen, der allein die notwendigen Ergänzungen und Kompensationen zu finden vermag – durch sein Mitleiden und Miterfahren.
Die existentielle Krise der Pubertät und der anbrechenden Adoleszenz braucht Verständnis und milde Stärke, benötigt eine Führung, die Geborgenheit schenkt und die beinahe in dem Maß wirksam ist, als sie unbemerkt bleibt. Auf Grund dieser Hilfe, die von der Tyrannei ebensoweit entfernt ist wie von „gutherzigem“ Nachgeben, wird sich der Adoleszent allmählich an der umfangreichsten und echten Wertskala orientieren, da die Werte im Grunde immer das unvermeidliche, reinigende Fegefeuer der Person darstellen.