Im Menschen besteht eine tiefgehende Einheit zwischen der körperlichen, der psychischen und der geistigen Dimension, eine gegenseitige Abhängigkeit von Biologischem und Kulturellem. Sein und Handeln gründen in der biologischen Natur und können nicht von ihr gelöst werden.

EINE ADÄQUATE BEZIEHUNG ZWISCHEN SEXUALITÄT UND GESCHLECHT

Natur und Kultur

Für die Einheit und Gleichberechtigung von Mann und Frau ist die Geschlechterdifferenz kein Hindernis. Wenn auch die weiblichen und männlichen Ausprägungen sehr flexibel sind, so können sie doch nicht völlig ignoriert werden. Es bleibt immer ein hohes Maß an natürlicher geschlechtlicher Verfasstheit bestehen, das nicht ohne verzweifelte Anstrengung verdrängt werden kann.
Die Kultur hat ihrerseits eine adäquate Antwort auf die Natur zu geben.

Sie darf kein Hindernis für die volle Entwicklung einer Gruppe von Menschen aufrichten. Es ist offensichtlich, dass es Frauen gegenüber in der Geschichte viele Ungerechtigkeiten gegeben hat, die es auch heute noch in vielen Teilen der Welt und in vielen Bereichen gibt. Diskriminierungen haben keine biologische Grundlage, sondern kulturelle Wurzeln. Soziale Funktionen dürfen nicht einfachhin an Genetik oder Biologie gebunden werden. Es ist wünschenswert, dass die Frau neue Aufgaben übernimmt, die ihrer Würde entsprechen. Das Mitwirken der Frau in der Öffentlichkeit und am Arbeitsmarkt ist zweifellos ein Fortschritt, der neue Herausforderungen an beide Geschlechter stellt.

In diesem Zusammenhang kann der Begriff „Gender“ dann akzeptiert werden, wenn kulturelle Prägungen von Mann und Frau und deren Funktionen im sozialen Kontext damit umschrieben werden, ohne dass geleugnet werden dürfte, dass es eine biologisch fundierte Geschlechterdifferenz gibt. Denn viele dieser Funktionen von Mann und Frau im sozialen Kontext sind nicht beliebig konstruierbar, weil biologisch verwurzelt. Deshalb “ist es möglich, ohne nachteilige Folgen für die Frau auch einen gewissen Rollenunterschied anzunehmen, insofern dieser Unterschied nicht das Ergebnis willkürlicher Auflagen ist, sondern sich aus der besonderen Eigenart des Mann- und Frauseins ergibt.” (40)

Zur Bedeutung der Familie

Gegenwärtig wird vielen von neuem klar, dass man nicht unabhängig von der Basis der eigenen Natur frei werden kann; dass das Geschlecht, jenseits von Privileg oder Diskriminierung, immer auch eine Chance zur Selbstentfaltung bedeutet. Folglich setzen sie sich z. B. dafür ein, dass die Förderung der Frau nicht allein im außerhäuslichen Bereich betrieben wird. Die erwerbstätige Frau darf –bei aller Anerkennung ihrer berechtigten Anliegen– nicht zum einzigen Ideal weiblicher Selbständigkeit erklärt werden; sonst entsteht ein sozialer Zwang, der sowohl den Frauen als auch den Männern und nicht zuletzt der Familie schadet.

Die Sorge für die Familie ist selbstverständlich nicht nur eine Aufgabe der Frau, sondern auch des Mannes. Aber auch wenn der Mann verantwortungsbewusst ist und seine beruflichen und familiären Aufgaben angemessen miteinander verbindet, ist nicht zu übersehen, dass der Frau innerhalb der Familie eine äußerst wichtige Rolle zukommt. Der spezifische Beitrag, den sie hier leistet, muss selbstverständlich in der Gesetzgebung voll berücksichtigt und endlich auch in finanzieller und sozialpolitischer Hinsicht gebührend honoriert werden, vor allem, wenn sich die Frau für eine Familienphase entscheidet und erst danach (wieder) erwerbstätig sein will. An einer entsprechenden Gesetzgebung mitzuwirken, sollte weltweit nicht nur als Recht, sondern auch als Pflicht der Frau angesehen werden.

SCHLUSSBEMERKUNG

Die Entwicklung einer Gesellschaft hängt vom Einsatz aller menschlichen Ressourcen ab. Deshalb sollten sowohl Männer als auch Frauen in allen Bereichen des öffentlichen und privaten Lebens wirken können. Die Bemühungen, dieses gerechte Ziel auf den verschiedenen Ebenen der Politik, der wirtschaftlichen Unternehmen, in der Kultur, im Sozialbereich und in der Familie zu erreichen, können in der “Perspektive der Gender – Gleichberechtigung” behandelt werden, sofern diese Gleichberechtigung die realistische Sicht der Geschlechterdifferenz einschließt und das Kindeswohl berücksichtigt. Einige Länder und internationale Organisationen nehmen die unterschiedliche Situation von Mann und Frau tatsächlich ernst und entwickeln Pläne für Chancengerechtigkeit, die Frauen wie Männern nützen. Wenn es gilt, politische Entscheidungen zu treffen, fordert die Gender-Perspektive dazu auf, sich von vornherein klarzumachen, wie sich die möglichen Folgen der Gesetzgebung oder bestimmter Programme auf das Leben von Frauen und Männern auswirken.

Eine so verstandene Gender-Perspektive, in der sich Menschen für das Recht auf Verschiedenheit von Mann und Frau und für ihre gemeinsame Verantwortung in Familie und Beruf einsetzen, darf allerdings nicht mit den radikalen Ansichten, die eingangs erwähnt wurden, verwechselt werden. Denn wenn die geschlechtlichen Differenzen ignoriert werden, kann nicht nur der einzelne Mensch tiefen Schaden erleiden. Zugleich wird der Weg dafür geebnet, die Fundamente der Familie und der zwischenmenschlichen Beziehungen auszuhöhlen. Doch eine Gender-Perspektive, die die geschlechtliche Identität anerkennt, ist sehr zu befürworten.
(Schluss)



Anmerkungen

(40) JOHANNES PAUL II, Brief an die Frauen (29.6. 1995), 11.

Vorheriger ArtikelKinder zum Lesen hinführen
Nächster ArtikelDer Vater macht den Unterschied
Jutta Burggraf
Jutta Burggraf (* 1952 in Hildesheim; † 5. November 2010 in Pamplona) war eine deutsche Theologin. Burggraf erhielt 1996 einen Ruf auf die Professur für Ekklesiologie, insbesondere für Theologie der Schöpfung, ökumenische Theologie und feministische Theologie an der Universität Navarra. Burggraf war auf der 7. Ordentlichen Bischofssynode, die vom 1. bis 30. Oktober 1987 in Rom stattfand, als Expertin geladen und hat an der Vorbereitung des Apostolischen Schreibens Christifideles laici zur „Berufung und Sendung der Laien in Kirche und Welt“ von Papst Johannes Paul II. mitgewirkt. Sie war seit 1996 korrespondierendes Mitglied der Pontificia Accademia Mariana Internazionale (PAMI). --- „Sie war zeitlebens eine Kämpfernatur; sie war verantwortungsbewusst, arbeitsam, zäh. Sie liebte das einfache Leben, freute sich an der Freizeit und hatte einen Sinn für alles Schöne. Sie war ihren Freundinnen eine echte Freundin.“ So hat Prälat Rafael Salvador, der Vikar der Delegation des Opus Dei in Pamplona, Spanien, Jutta Burggraf charakterisiert, die am 5. November nach schwerer, mit Gottvertrauen getragener Krankheit von uns gegangen ist.