Die Vorbereitung junger Menschen auf ihre zukünftigen Aufgaben in Beruf, Partnerschaft, Familie und Gesellschaft stellt sich in der aktuellen kulturellen Situation als nicht leicht dar. Vorbilder spielen dabei eine entscheidende Rolle. Albert Wunsch gibt in einer Artikelserie grundsätzliche Orientierungen für diese wichtige Erziehungsdimension.

Vorbilder im Sinne einer ethischen Grund-Orientierung

Ja, wir kennen sie noch, die Hochglanz-Vor-Bilder, ob Mutter Theresa, Albert Schweizer, Mahatma Gandhi, Martin Luther King oder Papst Johannes Paul II. Gibt es einen bestimmten Anlass, werden sie in einer Rückbesinnung auf ihre großartige Botschaft hier und da auf die Kultur-Seiten großer Zeitungen gehievt.

Aber erhalten Kinder und Jugendliche noch die Chance, in ihrem Leben eine ausreichende Zahl von glaubwürdigen und standfesten Menschen mit Ausstrahlung im unmittelbaren Umgang kennen zu lernen? Statt ethischer Orientierung wucherte in den zurückliegenden Jahren immer stärker eine Haltung der Beliebigkeit. Sie äußert sich u.a. in der Floskel des: „Ist schon okay so!“

Verantwortung übernehmen

Egal wie abwegig oder unsozial eine soeben deutlich gewordene Verhaltensweise oder Entscheidung auch gewesen sein mögen, jedwede Bewertung wird tunlichst vermieden. Auch die von vielen Erwachsenen im Umgang mit Jüngeren von sich gegebene Redewendung: „Das muss halt jeder selbst wissen, da will ich dir nicht reinreden“, entlarvt sich auf diesem Hintergrund als pädagogische Bankrott-Erklärung und Ausdruck der Verweigerung einer Übernahme von Verantwortung bzw. Mitverantwortung für das Leben der nachwachsenden Generation. Natürlich müssen unsere Kinder und Jugendliche – je älter sie werden umso intensiver – immer umfangreicher lernen, eigene Entscheidungen im Angesicht der damit verbundenen Konsequenzen zu treffen.

Aber gerade in neuen Situationen benötigt in der Regel nicht nur der Nachwuchs Anhaltspunkte und Entscheidungskriterien, was denn für jene oder diese Richtungsgebung entscheidend sein könnte. Und diese Aufgabe kommt – je nach Beziehungsnähe differierend – auf alle Väter und Mütter, Erzieherinnen und Lehrer oder andere wichtige Personen des persönlichen Umfeldes von Kindern und Jugendlichen zu. Denn gerade diese, mit einem Vorsprung an Lebenserfahrung ausgestatteten Menschen, haben die Funktion, Verhaltensweisen oder Vorhaben auch in ethische Zusammenhänge zu setzen und Bewertungen – in klarer Abgrenzung von Verurteilungen – vorzunehmen.

Herrscht hier jedoch eine allgemein auszumachende Beliebigkeit im Sinne einer gleichen Gültigkeit, wird sich im Umgang mit Gut und Schlecht, Richtig und Falsch, Lebensförderndem und Lebensbedrohendem schnell Gleich-Gültigkeit ausbreiten.

Wegweisende Funktion der Erwachsenen

Auch wenn es in Vergessenheit geraten zu sein scheint, im Grunde haben alle Erwachsenen – ob ihnen dies bewusst ist oder auch nicht – die Funktion von Wegweisern. Denn Kinder orientieren sich an dem, was um sie herum passiert. So ist – auch wenn dies kollektiv verdrängt worden zu sein scheint – neu in den Blick zu nehmen: Neben den Eltern sind nicht nur Erzieherinnen, Lehrer, Ausbilder, Priester, Ärzte, Polizisten, Chefs und Politiker, unabhängig von ihrer Funktion, für den Nachwuchs eindeutig auch Vorbilder, sondern etwas abgeschwächter trifft dies z.B. auch auf Nachbarn, Postboten, Eisverkäufer, Spaziergänger, Kanalarbeiter und Zirkusbesucher zu. Insoweit steht die ganze Erwachsenen-Generation in der Aufgabe, mit ‚Kopf, Herz und Hand’ die nachwachsende Generation auf ein Leben in Eigenständigkeit, Selbst- und Mitverantwortung innerhalb globaler Weltbezüge vorzubereiten.

Fehlen diese Menschen, werden sie nicht deutlich erkennbar oder hapert es am notwendigen Rückgrat, werden Kinder und Jugendliche wegen Orientierungsmangel schnell in die Irre geraten. Denn so wie die Seefahrt ausreichend Leuchttürme zur Kurs-Festlegung benötigt, so brauchen junge Menschen im Licht von Beachtung und Anerkennung stehende Vor-Bilder, um nicht in einem Meer der Beliebigkeit zu stranden.

Zusammenfassende Gedanken

Texte in Büchern oder Zeitschriften, Filme und Bildbände, Internet-Seiten und Video-Darstellungen, in Schulen verabreichter Lernstoff oder durch Erwachsene zum Ausdruck gebrachte Worte, all dies kann auch dem Ziel dienen, jungen Menschen Orientierungshilfen zu bieten. Ist die Botschaft gut und fällt sie auf fruchtbaren Boden, können so wichtige Informationen und Verhaltensanregungen transferiert werden. Aber nichts ist wegweisender und nachvollziehbarer – natürlich auch im negativen Sinne – als eine durch Menschen gelebte Botschaft. Fallen hier Handlung, ethischer Anspruch und deutlich werdende Haltung zusammen, bietet sie die beste Gewähr für die folgenden Einübungsfelder:

• Erlernen des Lernens im Sinne der Aneignung: wie viel Geschick, Anstrengung, Gedächtnisleistung, Übungs-Training, Kreativität, Kombinationsfähigkeit und Zeit ist zur Erreichung des Zieles X oder Y notwendig?

• Erlernen des Umgangs im Sinne der Handhabung: auf welche Weise finde ich was wo und wie funktioniert?

• Erlernen des Umgangs im Sinne der Wirkung: was führt zu welchen technischen, ökonomischen, biologischen und psychischen Reaktionen?

• Erlernen des Umgangs im Sinne von Verantwortung: welche Anwendung bzw. Entscheidung fördert, behindert bzw. verhindert das Zusammenleben?

Das ist die heutige Herausforderung im Sinne einer lebenspraktischen und ethischen Grund-Orientierung, um junge Menschen – wohlwollend, vorlebend und konsequent auf ihre zukünftigen Aufgaben in Beruf, Partnerschaft, Familie und Gesellschaft vorzubereiten. Denn ohne durch einzelne Personen in die Anschauung gebrachte positive Orientierungsmuster und Entscheidungshilfen gerät unsere eigene Zukunft leicht in ein Nirwana aus Unzulänglichkeit, Beliebigkeit und Verantwortungslosigkeit. Die Botschaft für ‚Klein und Groß’ ist eindeutig: ‚Ein (Vor)-Bild sagt mehr als tausend Worte’!


Zu den anderen Folgen der Artikelserie

Teil 1
Teil 2

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Dr. Albert Wunsch
Dr. Albert Wunsch ist Psychologe und promovierter Erziehungswissenschaftler, Diplom Pädagoge und Diplom Sozialpädagoge. Bevor er 2004 eine Lehrtätigkeit an der Katholischen Hochschule NRW in Köln (Bereich Sozialwesen) begann, leitete er ca. 25 Jahre das Katholische Jugendamt in Neuss. Im Jahre 2013 begann er eine hauptamtliche Lehrtätigkeit an der Hochschule für Ökonomie und Management (FOM) in Essen / Neuss. Außerdem hat er seit vielen Jahren einen Lehrauftrag an der Philosophischen Fakultät der Uni Düsseldorf und arbeitet in eigener Praxis als Paar-, Erziehungs-, Lebens- und Konflikt-Berater sowie als Supervisor und Konflikt-Coach (DGSv). Er ist Vater von 2 Söhnen und Großvater von 3 Enkeltöchtern. Seine Bücher: Die Verwöhnungsfalle (auch in Korea und China erschienen), Abschied von der Spaßpädagogik, Boxenstopp für Paare und Mit mehr Selbst zum stabilen ICH - Resilienz als Basis der Persönlichkeitsbildung, lösten ein starkes Medienecho aus und machten ihn im deutschen Sprachbereich sehr bekannt.