Mit dem zunehmenden Interesse für die aufstrebendde Weltmacht China werden auch Pädagogen neugierig auf die Gründe des Erfolges. So bietet sich ein Blick in den Bestseller von Amy Chua an, der noch immer für Diskussionen sorgt – auf Deutsch: “Die Mutter des Erfolgs. Wie ich meinen Kindern das Siegen beibrachte“.

Was würde weltweit passieren, wenn ein unbekannter Kunstprofessor einer renommierten deutschen Hochschule ein Buch über seine juristischen Praktiken bzw. Erkenntnisse veröffentlichte: Nichts – oder vielleicht ein müdes Lächeln, ergänzt durch den Volksmund-Appell: „Schuster bleib bei deinem Leisten!“

Was führte bzw. führt dazu, dass ein als Buch erschienener Erziehungsbericht einer chinesisch-stämmigen Yale-Jura-Professorin der USA weltweit einen Hype auszulösen scheint und das Blut der Menschen in Wallungen bringt?

Eigentlich ohne eine gewaltige PR-Maschinerie nicht zu erklären, es sei denn, dass die schriftlichen Ergüsse dieser anscheinend allein erziehenden Mutter – der Vater ist eher eine ruhige Randfigur – auf eine latente innere Unruhe, Unsicherheit oder gar Angst gestoßen sind, sonst wäre dies nicht erklärbar. Ja, die ‚Schlachtrufe einer Tigermama’ trafen in großer Breite auf einen ‚wunden Punkt’ und lösten manche äußerst bizarre emotionale Reaktionen aus. Es gab sogar Morddrohungen in der heftig, leidenschaftlich und polemisch geführten Debatte.

Die Sieger-Macher-Strategie

Amy Chua – 38 Jahre alt – stellt als zur Elite gehörende Super-Mama eine fernöstlich als erfolgreich betrachtete Drill-Erziehung einer westlichen durch Weichheit, Inkonsequenz und Unterforderung geprägten pädagogischen Praxis gegenüber. Ein Kurzschluss-Resümee: Wer nicht von China überrannt werden will, muss deren Erziehungssystem übernehmen. Damit befinden wir uns im Zentrum der Gefahr, dieses Buch als Sieger-Macher-Strategie zur Überwindung unseres allerorts festzustellenden geballten Unvermögens im Umgang mit Kindern aufzugreifen.

Aber ist es verwerflich, wenn Amy Chua ihre Kinder zum Erfolg zu führen sucht? Wollen nicht (fast) alle ihre Kinder als Sieger sehen? Dies wird meist so sein. Nur ist dann vorab zu klären, was als Erfolg oder Sieg betrachtet wird. Sonst wird aus einem ‚gutgemeinten Besten’ fürs Kind schnell das Gegenteil. So fühlte sich Napoleon z.B. noch kurz vor Moskau als großer Sieger und sah den Zar schon ergeben zu seinen Füßen liegen. Er fühlte sich als mächtiger Eroberer, der nur noch die ruhmreiche Stadt an der Moskva in Besitz nehmen brauchte. Aber nur wenige Tage später stand er ab Abgrund seines Erfolgs, zeigte sich das Desaster seines Größenwahns. So abrupt kann ein Höhenflug in einem Absturz enden.

Nur die Zeugnisnote?

Was kann dies möglichen Amy-Chua-Fans sagen: Dass eine Zeugnis-Note maximal das Ergebnis fachlichen Wissens bzw. Könnens widerspiegelt. Sicher mag eine ‚summa cum laude Urkunde’ sich innerhalb einer Bewerbung oder überm Schreibtisch gut machen. Aber welchen Wert fürs Leben drückt sie aus? Zu was führt dieses Zertifikat exzellenter Fachlichkeit? Wird er oder sie zum grandiosen oder verbissenen Forscher? Wird eine demokratische oder faschistische politische Kariere angestrebt? Soll es um die Leitung in einem Unternehmen gehen oder führt’s zum Anheuern bei der Mafia? Und in welchem Umfang wird dabei das bisher kennengelernte Steuerungs-Instrument zwischen ‚kleinem Zuckerbrot und großer Peitsche’ das Handeln prägen?

Kein Super-Examen sagt etwas über die Voraussetzungen zu einem eigenständigen, selbstverantworteten und zufriedenen Leben aus. Dazu wären andere Fähigkeiten zu entwickeln. Denn um ein erfüllendes Leben in Beruf, Partnerschaft, Familie und Freundeskreis zu führen, sind reichlich liebevoll-kontinuierliche Beziehungs-Erfahrungen und ermutigende Zuwendungen notwendig. Je unsicherer die Zukunft ist, umso umfangreicher muss die Mitgift an Empathie, Fleiß, Durchhaltevermögen und Kompromissfähigkeit sein. 

Rückschlage und Langeweile

Kinder brauchen die Erfahrung, dass Anstrengungen (nicht aufoktroyierte), Durststrecken und Rückschläge genauso wie Freude oder auch Langeweile zum Leben gehören. Ihnen ist zu vermitteln, dass neben emotional-sozialer Kompetenz auch fachliches Wissen und praktisches Können notwendig sind. Kurz: Es geht um das Erlernen eines erfolgreichen Lebens.

Amy Chua will bzw. wollte das Beste aus den Kindern herauszuholen, ohne vorher abgeklopft zu haben, was das konkret im Hinblick auf ihre Kinder sei. Das Prinzip „Kein Lob ohne Leistung“ sollte das Selbstwertgefühl stärken; Glück und Befriedigung sind nur durch Perfektion erreichbar. In einem Interview auf „Spiegel Online“ sagte Amy Chua: „Hartnäckiges Üben ist ausschlaggebend für Spitzenleistungen. Der Effekt sturer Wiederholung wird in der westlichen Welt weit unterschätzt.“ Auf die Frage, ob sie einen Zusammenhang mit der hohen Suizidrate bei asiatisch-amerikanischen jungen Frauen sehe, sagte sie: „Wenn das stimmt, ist das natürlich tragisch. Aber mir erscheint das doch sehr anekdotisch.“

Problem der Extreme

In Sachen Erziehung scheint das Pendel zu häufig zwischen Kuschelkurs und Laufenlassen auf der einen Seite und einem sich in Strenge und Härte äußernden diktatorischen Gebaren als Gegenpol auszuschlagen. Meist geschieht dies in steter Abwechslung. Heute prägen Drüber-Weg-Sehen und Verwöhnung das Verhalten und morgen ist mir alles zu bunt, sodass Härte und Verbote die Szene beherrschen. 

Der Schlüssel für einen Mittelweg wären Stichworte wie: das Leben und Erleben von Vereinbarungen und Konsequenzen. Denn wenn natürliche und logische Folgen von kindlichen Verhaltensweisen – ob mit positivem oder negativem Vorzeichen – viel umfangreicher deutlich würden, hätte dies einen Schub in Richtung eigenständigen Lernens und Selbstverantwortung zur Folge.

Wer beim Lesen des Erziehungs-Versuch-Buches von Amy Chua auch seine tiefer lotet, kann ihm drei wichtige Botschaften entnehmen:

  • Erstens: Bei einem per Druck und Unterwerfung aufgewachsenen Menschen wird nicht Ausgeglichenheit und Liebenswürdigkeit sondern Aggression und Gewalt wachsen.
  • Zweitens: Jedes Überstülpen von eigenen Vorstellungen wird einem Kind mit seinen ganz spezifischen Anlagen und Entwicklungs-Bedürfnissen nie gerecht.
  • Drittens: Ja, per Zwang kann Etliches erreicht werden, ob nun Sklaven Pyramiden bauten, die Untertanen autoritärer Herrscher deren Drecksarbeit verrichten oder ein Kind zur Musik-Virtuosin herangezüchtet wird, aber es ist immer ein Angriff auf die Menschenwürde.

Da ein durch Nachgiebigkeit und Unterforderung geprägter Erziehungsstil keinesfalls zu mutigen, leistungsbereiten und zufriedenen Erwachsenen führen kann, stellt sich die Frage: Was ist denn die Alternative zu Drill, Druck und Leistungs-Zwang?

Erziehung ist Vorbild und Liebe, sonst nichts?

Auch wenn manch moderner Zeitgenosse Pestalozzis Credo: „Erziehung ist Vorbild und Liebe, sonst nichts“, als etwas mager betrachten mag, wenn wir einige Begriffe zur Verdeutlichung dazunehmen, trifft es immer noch den Kern. Denn Vorbild sein heißt, Wissen, Erkenntnisse und Handlungsfähigkeiten per Lebensvollzüge weitergeben zu können, die erzieherische Sprache mit dem eigenen Handeln im Einklang zu halten, Verantwortung zu leben, in Konflikten und Belastungssituationen hinzuhorchen, Wertschätzung und Zuwendung zum Ausdruck zu bringen, sich aktiv Herausforderungen zu stellen und den inneren Schweinehund an der Kette zu führen. Dann erlernen Kinder anstelle von furchtsamem Gehorchen hinzuhorchen, erkennen wichtige Zusammenhänge im Leben, wollen selbst den Erfolg und werden sich dafür auch anstrengen.

Bei der Erziehung geht es immer um Respekt, Wohlwollen, Achtung, Selbstdisziplin und Empathie, um die Befähigung zur Verantwortung für sich, die Mitmenschen und die uns anvertraute Schöpfung Das kann/darf durch Zwang nie zu erreichen gesucht werden. Es deutet vieles darauf hin, dass Amy Chua diese Lektion zum Ende des Buches begriffen hat.

Der deutsche Titel des Buches von Amy Chua: “Die Mutter des Erfolgs. Wie ich meinen Kindern das Siegen beibrachte“ müsste eher heißen: ‚Wie ich Kindern die Seele kaputt machen kann. Vom Pyrrhussieg einer gutmeinenden überdrehten Mutter’. 

In China lächeln viele über die Reaktionen zu diesem Buch. Denn hier haben sich mittlerweile soviel Weichmacher ins Erziehungssystem geschlichen, dass der aus Deutschland importierte Erfolgstitel: „Die Verwöhnungsfalle, für eine Erziehung zu mehr Eigenverantwortlichkeit“ der sich breit machenden Inkonsequenz und Unterforderung der Kinder ein Ende bereiten soll.

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Dr. Albert Wunsch
Dr. Albert Wunsch ist Psychologe und promovierter Erziehungswissenschaftler, Diplom Pädagoge und Diplom Sozialpädagoge. Bevor er 2004 eine Lehrtätigkeit an der Katholischen Hochschule NRW in Köln (Bereich Sozialwesen) begann, leitete er ca. 25 Jahre das Katholische Jugendamt in Neuss. Im Jahre 2013 begann er eine hauptamtliche Lehrtätigkeit an der Hochschule für Ökonomie und Management (FOM) in Essen / Neuss. Außerdem hat er seit vielen Jahren einen Lehrauftrag an der Philosophischen Fakultät der Uni Düsseldorf und arbeitet in eigener Praxis als Paar-, Erziehungs-, Lebens- und Konflikt-Berater sowie als Supervisor und Konflikt-Coach (DGSv). Er ist Vater von 2 Söhnen und Großvater von 3 Enkeltöchtern. Seine Bücher: Die Verwöhnungsfalle (auch in Korea und China erschienen), Abschied von der Spaßpädagogik, Boxenstopp für Paare und Mit mehr Selbst zum stabilen ICH - Resilienz als Basis der Persönlichkeitsbildung, lösten ein starkes Medienecho aus und machten ihn im deutschen Sprachbereich sehr bekannt.