Bild: Piero del Pollaiolo 1470, Galleria degli Uffizi a Firenze. Temperantia

Die Tugend des Maßes ist heute nicht gut angesehen. In ihr geht es auch um Disziplin und Entsagung. Das wird in einer Kultur, in der das Wohlbefinden als wichtigstes Ziel herrscht, nicht geschätzt. Letztlich ist diese Tugend aber die Hüterin unserer Freiheit. Jemand, der meint, frei sein bedeute, sich seinem spontanen Verlangen ohne Einschränkung hingeben zu können, verfällt einer tragischen Täuschung: er ist Sklave seiner Triebe.

Die Rangordnung der Sinne

Die katholische Lehre hat stets den Vorrang des Geistes gegenüber der Materie bekundet, zugleich aber den Wert des Materiellen anerkannt. Dieser Wert baut auf der Güte Gottes auf, der alles aus dem Nichts erschaffen hat und an allem Wohlgefallen fand. Seit den ersten Jahrhunderten hat die Kirche beide Extreme verurteilt: die Verneiner des Geistes und die Verneiner der Materie.

Der Christ erkennt die spezielle Würde des menschlichen Körpers an, der zur Auferstehung berufen ist. Der hl. Paulus schreibt den Korinthern: „Oder wisst ihr nicht, dass euer Leib ein Tempel des Heiligen Geistes ist, der in euch wohnt; ihn habt ihr von Gott, und nicht euch selber gehört ihr. Denn ihr wurdet erkauft um einen Preis. So verherrlicht Gott in eurem Leib!“

Der maßvolle Mensch richtet sein sinnliches Strebevermögen auf das Gute und bewahrt dadurch ein gesundes Unterscheidungsvermögen. Die Mäßigkeit vervollkommnet das sinnliche Begehren, das sich auf das richtet, was gemäß der Wertung der Sinne als lustvoll erscheint. Den fünf Sinnen entsprechend gibt es die Lust des Tastens, Schmeckens, Sehens, Hörens und Riechens.

Durch die Mäßigkeit wird der Genuss von Essen, Trinken, sexueller Freude, das Verlangen nach Wohlstand und gesellschaftlicher Geltung sowie die Abneigung gegen Schmerz und Leid ihrer Eigenmacht entzogen und zu einer harmonischen Erfüllung geführt. Die Ordnung zwischen den Sinnen und der Vernunft wird harmonisiert und dadurch Glück ermöglicht.

Die Mäßigkeit fördert die Ausgeglichenheit, die auch zu einer harmonischen Persönlichkeit gehört. Maßhalten heißt, sich selbst im Griff zu haben. Nicht alles, was wir leibhaft oder seelisch empfinden, darf uns in einen ungezügelten Strom fortreißen; ich muss wissen, dass ich nicht alles darf, was ich kann.

Weg der Befreiung

Ein Leben im Geist des Verzichts und besonders des Opfers befreit den Menschen von vielen Fesseln und lässt ihn im Innersten seines Herzens die ganze Liebe Gottes auskosten. Durch Maßhalten wird die Seele nüchtern, bescheiden und verständnisvoll; leicht und wie selbstverständlich neigt sie zu einer Zurückhaltung, die anziehend ist, weil sie die Herrschaft des Verstandes spüren lässt.

Maßhalten bedeutet nicht Einengung, sondern Weite. Die Einengung liegt vielmehr in der Maßlosigkeit, denn dann wirft sich das Herz selbst weg, jämmerlich verführt vom erstbesten blechernen Lärm (vgl. Escrivá, Freunde Gottes, Nr. 84). Papst Johannes Paul II. sagte in einer Ansprache im Jahre 1978. Damit der Mensch ganz Mensch sein könne, sei die Mäßigkeit unentbehrlich. Man brauche nur jemanden anzuschauen, der sich zu einem Opfer seiner eigenen Leidenschaften erniedrigt habe: ein Mensch, der auf seinen Verstand verzichte (zum Beispiel ein Alkohol- oder Drogensüchtiger). Maß haben bedeutet demnach auch, die eigene Würde zu respektieren. Mensch leicht einredet, er habe wichtigere Pflichten und daher keine Zeit, oder es sei zu schwierig, die Lehre Christi zu verstehen.

Die Würde des menschlichen Körpers

Der Mensch gehört ganz Gott, mit seiner Seele und seinem Körper, mit seinen Sinnen und Vermögen. Unter allen Geschöpfen ist der Mensch das einzige, das mit Gott kommunizieren kann. Nur der Mensch ist dazu berufen, das ewige Leben zu erlangen. Alles, was Gott erschaffen hat, hat er für den Menschen bestimmt, dem Haupt und der Krönung der körperlichen Schöpfung. Nachdem aber die Erbsünde Unordnung in die Schöpfung gebracht hat, sollte die Haltung des Christen vor den sinnlichen Vergnügen jene sein, die der hl. Paulus im ersten Brief an die Korinther beschreibt: „Alles ist mir erlaubt! Doch nicht alles tut gut! Alles ist mir erlaubt! Doch möchte ich mich nicht unterjochen lassen von irgendeiner Sache. Das Essen ist für den Magen da und der Magen für das Essen. Gott aber wird ihn und dieses vergehen lassen. Der Leib ist nicht für die Unzucht, sondern für den Herrn und der Herr für den Leib. Gott erweckte den Herrn und wird auch uns erwecken durch seine Macht“ (1 Kor 6,12 ff.).

Heutzutage wird das Sinnliche oft übertrieben verherrlicht, die Lehre des hl. Paulus wird verdreht, ungefähr nach dem Motto: Alles, was mir gefällt, ist mir erlaubt. Mein Körper gehört mir und nur ich darf – je nach Lust und Laune – über ihn bestimmen. Indem man das, was Gott als Mittel bestimmt hat, als Ziel einsetzt, versucht man sich von den göttlichen Gesetzen zu befreien und merkt nicht, dass man sich dafür einem anderen Gesetz unterwirft, dem des eigenen Tyrannen, der immer mehr von uns verlangt. Das Bild Gottes in der Seele des Menschen wird dabei stark verzerrt, und die menschliche Würde geht verloren.

Vom „Wohlgeruch Christi“

Im Leben Christi leuchtet ganz besonders das Maßhalten im Gebrauch der sinnlichen Güter auf. Wir sehen Christus beim Essen am Tisch, aber manchmal auch ohne Zeit zu essen oder sich auszuruhen, wenn es das Heil der Menschen erfordert. Er segnet die menschliche Liebe, lädt aber auch dazu ein, Haus und Familie zu verlassen, um ihm zu folgen. Er schätzt die Höflichkeit im Umgang, verurteilt jedoch leere Formalismen. Er kleidet sich würdig, schreibt der hl. Johannes, hat jedoch keinen Ort, wo er sein Haupt hinlegen könnte. Derselbe Jesus bewundert und liebt die Schönheit der Schöpfung, gleichzeitig aber erinnert er an die Vergänglichkeit dieses Lebens hier auf Erden: „Macht euch also nicht Sorge und sagt nicht: Was werden wir essen, was werden wir trinken, womit werden wir uns bekleiden? Denn nach all dem trachten die Hei- den. Euer Vater im Himmel weiß ja, dass ihr all dessen bedürft. Sucht zuerst seine Gerechtigkeit, und dies alles wird euch dazugegeben werden“ (Mt 6,31 ff.).

Dieses Vertrauen in Gott macht den Jünger Christi frei; er wirkt auf andere Menschen anziehend, weil er den „Wohlgeruch Christi“ (2 Kor 2,15) ausbreitet. Der hl. Augustinus sagt, dass die ersten Christen die materiellen Güter maßvoll gebrauchten, das heißt nur insofern sie notwendig waren oder um ihre Pflichten zu erfüllen. Sie be- werteten sie weder übermäßig noch wurden sie von ihnen „mit gerissen“. Auch heute kann es uns gelingen, innerlich losgelöst von den materiellen Gütern zu leben. Und wer nicht am Vergänglichen klebt, von dem wird man vielleicht sagen können, was die zwei Jünger in Emmaus über Jesus gesagt haben: „Brannte nicht das Herz in uns, als er auf dem Weg mit uns redete und uns die Schrift erschloss?“ (Lk 24,32).