Sport gehört zur Erziehung, ist aber kein Selbstläufer – es kommt vielmehr darauf an, wer was daraus macht … Ein Dorf im Hochland Guatemalas oder vielmehr eine Ansammlung von Hütten; es sind etwa zwei Dutzend. Die schmale Straße, die zum Ort führt, ist nicht asphaltiert. Sie endet auf einem Platz.
Jugendliche spielen hier Fußball, die meisten barfuß. Gleichfarbige Trikots oder Hosen haben sie nicht an. Jeder trägt einfach das, was er eben so auf dem Leib hat. Der Ball besteht aus zusammengewickelten Lumpen. Der Platz ist ziemlich holprig, nur fester Lehmboden, aber das stört hier niemanden.
Die Szene aus Zentralamerika ließe sich so oder ähnlich auch im Norden und Süden Amerikas, in Afrika, Asien, Australien oder Europa beobachten, wobei die Bedingungen recht unterschiedlich sein dürften.
Bei Erwachsenen wird das Spiel auf dem Dorfplatz Erinnerungen wecken, weil Fußball in der Kindheit und Jugend vielen das Wichtigste überhaupt war. Das gilt auch heute noch. Vor allem für Jungen, zunehmend aber auch für Mädchen, wie der Deutsche Fußball-Bund (DFB) betont.
Täglich wird irgendwo „gekickt“: Auf der Straße, auf Wiesen, Bolz- oder „richtigen“ Fußballplätzen, im Verein oder in der Schule. Nicht so sehr im Sportunterricht, zumindest nicht in Deutschland, denn dort stehen ganz andere Sportarten im Vordergrund, Leichtathletik, Geräteturnen, Schwimmen, Basket- oder Volleyball, die zwar auch ihren Reiz haben, aber eben nicht den dieses einzigartigen Spiels.
Fußball ist durch nichts zu ersetzen
Fußball ist durch nichts zu ersetzen. Denn Fußball kann überall gespielt werden. Für Fußball braucht man fast nichts; nur Mitspieler, Freunde, die diesen Zeitvertreib auch mögen – und die findet man allerorten. Dem Objekt der Begierde, ob nun Ball oder Coladose, wird etwa in jeder Pause hinterher gejagt.
Auf dem Schulhof finden sich immer zwei Mannschaften zusammen. Oder man trifft sich nachmittags auf der Straße. Mit Schulranzen, Steinen oder sonst was lassen sich Tore markieren. Und immer hat irgendjemand „ne’ Pille“ dabei. Selten einen echten Lederball, zumeist eine dieser kleinen Filzkugeln, die Tennisspieler so eindrucksvoll übers Netz bringen können, und die in fast jede Tasche passen.
Weil ein Fußballspiel, zumal auf Asche oder Asphalt, an den Schuhen Spuren hinterlässt, sehen Mütter das allerdings gar nicht gern. Was Jugendliche allerdings wenig beeindruckt. Sie werden das Spiel nicht lassen. Man braucht sich auf Schulhöfen oder Bolzplätzen nur umsehen und Fragen stellen wie: „Warum spielst du Fußball?“ oder „Was bedeutet dir das Spiel.“
Die Antworten sind deutlich. Der 19jährige Markus, Abiturient aus Sankt Augustin bei Bonn: „Für mich ist Fußball eigentlich existentiell. Ich verbinde mit diesem Sport unglaublich viel.“
Und Shady, 17 Jahre jung, Schüler der Deutschen Schule in Kairo sagt: „Ich spiele Fußball, seitdem ich geboren wurde. Das ist mein Leben!“
Oder Hans, 17, Schüler aus Köln: „Du wirst gefordert, du kannst was erreichen, Erfolg mit dem Team erleben. Wir haben zum Beispiel den Kreispokal gewonnen, eine Mannschaft geschlagen, die fünf Jahre lang keiner besiegt hat.“
Neues nach jeder WM
Der DFB hat schon recht früh, genauer nach der Weltmeisterschaft 2002 eine neue Lust am alten Spiel erkannt: „Nach dem zweiten Platz bei den Titelkämpfen in Korea und Japan rennen die Kinder und Jugendlichen hierzulande zum Beispiel den Veranstaltern der Fußball-Ferien-Camps die Türen ein.
Zwischen Flensburg und Passau wollen Jungen wie Mädchen ihren WM-Helden nacheifern.“ Im WM-Jahr 2006 war die Stimmung, wie wir alle eindrucksvoll erleben konnten nicht anders; auch wenn die Mission von Bundestrainer Jürgen Klinsmann nicht ganz gelungen ist und Deutschland als Dritter nur „Weltmeister der Herzen“ wurde, hat die WM dem Fußball wieder einmal einen neuerlichen Schub gegeben – Sommermärchen.
Und erst 2014 als Deutschland so unverhofft Weltmeister in Brasilien wurde, da wollte jeder Junge nur noch Mario Götze sein.
Und wie „leiden“ so viele Jugendliche unter den Beschränkungen, die ihnen die Corona-Krise zumutet, und welchen Erfindungsreichtum legen sie an den Tag, um ihrem geliebten Sport wenigstens noch etwas nachgehen zu können.
Die Nummer 1
Eigentlich braucht Fußball gar keinen neuen Schub. Schon jetzt kann diese Sportart mit eindrucksvollen Zahlen aufwarten. Denn nach den Worten von Dietrich Kurz, Sportwissenschaftler an der Universität Bielefeld, gibt es „kaum einen jungen Menschen, der in Deutschland aufwächst, ohne irgendwann einmal Fußball gespielt zu haben.“
Seinen Untersuchungen von 2002 zufolge ist Fußball zum Beispiel in Brandenburg für die Hälfte aller jungen männlichen Vereinsmitglieder die Hauptsportart; in Nordrhein-Westfalen nennen 40 Prozent der im Verein organisierten Aktiven Fußball ihren Sport Nummer eins.
Bei den Mädchen ist es umgekehrt: Nur fünf Prozent der jungen weiblichen Vereinsmitglieder bezeichnen sich als Fußballerinnen; andere Vereinssportarten werden klar bevorzugt.
Integrationsplattform
Dietrich Kurz weist noch auf einen anderen Sachverhalt hin: „Wir haben zwar gesehen, dass Fußball nach wie vor Männersache ist. Aber unter den Jungen und den jungen Männern bildet keine andere größere Sportart im Verein den sozialen Aufbau der Bundesrepublik Deutschland so ausgewogen ab wie der Fußball. Nirgends ist das Übergewicht der Gymnasiasten so gering, nirgends der Anteil der Jungen aus nicht-deutschen Familien so hoch wie im Fußball.“
Für den Sportwissenschaftler verfügt der Vereinsfußball damit über „ein einzigartiges soziales Kapital, ein einzigartiges Potential der sozialen Integration.“
Eindrucksvolle Zahlen
Zahlen bestätigen dies: Ein Drittel aller in Deutschland aufgewachsenen Jungen hat während der Schulzeit in einem Verein gespielt – und zwar im Durchschnitt vier bis fünf Jahre lang. Sie gehören in dieser Zeit einer Mannschaft an, trainieren regelmäßig, spielen in einer Liga.
Die Hälfte der jungen Vereinsfußballer trifft sich der Untersuchung zufolge mindestens dreimal wöchentlich zum gemeinsamen Training. Und: Zwei Drittel aller Vereinsfußballer sind oder waren nicht nur Mitglieder einer Trainings- und Wettkampfgruppe, sondern haben während ihrer Zeit im Verein auch besondere Aufgaben wahrgenommen: Mannschaftsführer, Betreuer, Trainer, Schiedsrichter oder Jugendsprecher.
„Ohne Übertreibung lässt sich sagen, dass für viele von ihnen der Fußball in ihrem Verein für einige Jahre ein Mittelpunkt ihres Lebens ist“, so der Bielefelder Sportwissenschaftler.
Metabereiche
„Freude am Spiel“ ist eine der häufigsten Antworten von Schülern, fragt man, warum sie das Fußballspiel nicht lassen können. Es ist aber offenbar nicht allein die sportliche Betätigung, die sie reizt.
Wer nachhakt, dem werden weitere Motive genannt: Freundschaft und Kameradschaft, Wettkampf und Leistung. Aber auch Umschreibungen wie „Man kann das, was man kann, umsetzen“ oder „Hier werde ich wirklich gefordert“.
Zum Erfolg, so lernen die Jugendlichen, reichen die eigenen Fähigkeiten allein nicht aus. Die Mitspieler sind ebenso gefordert wie der Trainer; das Gesamt muss stimmen: „Die Jungs müssen gut sein, der Trainer muss hinter mir stehen.“ Über den Sport werden Einstellungen vermittelt, die junge Menschen prägen können.
In der Pädagogik werden als positive Effekte genannt, dass Jugendliche beim Spiel lernen, sich ein- und unterzuordnen, zu führen und geführt zu werden.
Sie erfahren Anerkennung und Selbstbestätigung, Spaß und Freude. Ihnen wird der Wert eigener Leistung bewusst, aber auch die Notwendigkeit zu Solidarität.
Siege werden gemeinsam erlebt, auch Niederlagen. Heranwachsende erkennen ihre Fähigkeiten und entdecken, dass sie diese verbessern können. Sie messen sich mit anderen, kämpfen, erfahren eigene Grenzen und die anderer, sind auf einmal unsicher und müssen lernen, damit umzugehen. Der Sport schafft Erkenntnisse und Erlebnisse, die sie sonst nicht haben.
Sport ist mehr
Schulische Curricula fordern folglich, dass der Sport „die Wahrnehmungsfähigkeit von Schülern verbessert und ihre Bewegungserfahrungen erweitert, ihnen hilft, sich körperlich auszudrücken, Bewegung zu gestalten, etwas zu wagen und zu verantworten, Leistung zu erfahren, zu verstehen und einzuschätzen, miteinander zu kooperieren und sich zu verständigen, untereinander zu wetteifern“; der Sport soll die Gesundheit Heranwachsender fördern und dazu beitragen, dass Jugendliche ein Gesundheitsbewusstsein entwickeln. Folgerichtig ist die Aussage einer Vertreterin des Bundeselternrates, der Arbeitsgemeinschaft der Landeselternvertretungen: „Es gibt kein Fach, das so viel für andere Fächer macht wie der Sport.“
Dennoch: So richtig die Vorgaben sind und so schön sie auch klingen, bedarf es letztlich doch der Personen, die sie vermitteln. Dem Sportlehrer und Trainer kommt die entscheidende Rolle zu; die Art und Weise wie er Fußball vermittelt, hilft Heranwachsenden.
Das bestätigen Jugendliche, die für den Erfolg einer Mannschaft nicht nur die Qualitäten der Mitspieler wie den Zusammenhalt im Team verantwortlich machen, sondern nicht zuletzt auch die Fähigkeiten des Trainers nennen, die Mannschaft zu führen.
Fußball ist eben nicht nur auf dem Platz, wie man an der Ruhr gerne sagt. Hans aus Köln: „Mich hat unser Trainer beeindruckt, weil er sich sehr für den Menschen interessiert.“ Er habe „nicht nur über das Fußballerische“ das Gespräch gesucht, sondern sich auch nach den persönlichen Umständen der Spieler erkundigt. „Er hat uns menschlich geschult. Leute haben sich gewandelt, einen gewissen Egoismus abgelegt, was den Teamgeist gefördert hat.“
Freiheit für den Fußball
Dass Fußball bewegt, hat sich herumgesprochen. Aber auch, dass er in seiner kommerziellen Form giftige Blüten treiben kann: wo Geschäfte winken, verliert der Gemeinsinn.
Selbst den Straßenfußball haben Funktionäre und Bürokraten inzwischen im Griff: während der Weltmeisterschaft in Deutschland hat es ein entsprechendes Turnier gegeben.
Hat Bob Marley, früh verstorbener Vertreter des Reggae, nicht einst gesagt, Fußball bedeute Freiheit? Die Verantwortlichen sollten den Satz des Jamaikaners beherzigen: Gebt den Jugendlichen ruhig Bälle, lasst sie dann aber einfach spielen. Auch und gerade jetzt. Denn das ist Fußball.