Bitten und sogar Flehen ist menschlich und gewöhnlich; dankbar zu sein, ist seltener und doch auch menschlicher. Man kann ohne Zweifel sagen, „es gäbe keine andere Eigenschaft des Menschen, die so geeignet ist, den Zustand seiner inneren, geistigen und sittlichen Gesundheit erkennen zu lassen, wie seine Fähigkeit, dankbar zu sein“ (Otto von Bollnow).

Die Dankbarkeit kommt dem Geschenk entgegen, insbesondere dem Geschenk der Liebe. Liebe unter uns Menschen ist erst reif und echt als unbefristete, unentgeltliche Selbsthingabe, nicht als Eigensucht oder bloßer Austausch von Diensten, Lüsten oder Dingen: sie ist reinstes Geschenk.

Gegenseitige Dankbarkeit

Prüfstein der Liebe ist deshalb die gegenseitige Dankbarkeit. Wenn zwischen angeblich liebenden Menschen viel von Pflichten und Rechten die Rede ist, dann hat man das Wichtigste versäumt: das Geschenk und die aus ihm quellende Dankbarkeit.

Bewahrt man nur die Treue in der Liebe, so hat man ihr Wesen und ihre Fülle noch nicht erkannt und ausgekostet. Denn die Treue enthält präzise Verpflichtungen, deren Verletzung ein Zerreißen des Liebesbandes darstellt; die Dankbarkeit hingegen ist eine delikate, äußerst sensible Gesamtverfassung, die hauptsächlich durch das bloße Vergessen, durch das Unterlassen und durch die Zerstreuung verwundet wird.

Deshalb glänzt sie als Zeichen der höchsten Menschenfreiheit, genauso wie die immer frische Überraschung jedes nie selbstverständlichen Geschenks. Wer die pure Freiheit des Sich-Schenkens nicht gelebt hat, der kann auch nicht die freie vollkommene Freude der Dankbarkeit fühlen und ausdrücken.

Undankbarkeit: noch unreif sein zur Freiheit

Freilich, es gibt auch freies Handeln, wie es freien Markt gibt, aber wer eine Ware verkauft, erwirbt damit das Anrecht, bezahlt zu werden. Es gibt auch eine freie Treue, aber nur in dem Sinne, dass man sie frei halten oder brechen kann. Das Schenken und das Empfangen bewegen sich in einer höheren Freiheit, die sich bei feinfühlenden, edlen Geistern durch die elegante Bescheidenheit verwirklicht, und auf Seiten des Empfängers als anmutige Dankbarkeit in Erscheinung tritt. Das lateinische Wort „gratia“ heißt Gabe und zugleich Dank – man beschert eine „gratia“, und man bedankt sich durch ein „Gratias-Sagen“. Darüber hinaus bedeutet „gratia“ die kostbare Eigenschaft, das Schwierige mit Leichtigkeit zu leisten, jene zarte Weise des sich auf dieser Welt Bewegens, die man als Anmut bezeichnet:

„Anmut bringen wir ins Leben; leget Anmut in das Geben! Leget Anmut ins Empfangen! Lieblich ist’s, den Wunsch erlangen. Und in stiller Tage Schranken höchst anmutig sei das Danken“

sagen die Drei Grazien in Goethes Faust.

Das wahre Geschenk kommt unverdient und unerwartet. Mit ihm begründet sich die absolute Neuheit jedes Liebesaktes, der nie wiederholt sein kann und nie als etwas Wiederholtes empfunden wird, die „Ewigkeit“, die Unenttäuschtheit und die Unenttäuschbarkeit und die Unauslöschlichkeit des Liebesbandes … gerade als Ausdruck und Offenbarung der höchsten Freiheit des geistigen Menschenwesens. Vermag ein Geschenk im Grunde nie „bezahlt“ oder „erwidert“ werden, so bleibt man doch „ewig“ dankbar. Und dieses „Für immer“ ist der Grund, weshalb viele Menschen die Dankbarkeit vermeiden: sie spüren, sie würden damit nie fertig werden, und das Ewige wurde von uns Menschen zu allen Zeiten gefürchtet.

Übrigens sind junge Leute bekanntlich besonders „undankbar“, weil sie das Unverdiente, das nicht aus eigener Kraft Gewonnene, niemals annehmen möchten. Sie sind noch zu unerfahren, um zu wissen, dass man in der Welt nur durch die Unterstützung der anderen leben kann, dass jedem Leben ein Zusammenleben zugrunde-liegt, dass jedes Dasein ein Mitsein ist.

Dankbarkeit ist grundlegend für den Menschen

Infolgedessen – auch wenn es sonderbar klingen mag – bildet die Dankbarkeit eine der tragenden Grundhaltungen des Menschendaseins. Das Leben ist in der Tat ein bloßes Geschenk; nicht nur mein Leben, sondern mein Sein schlechthin. „Was hast du, das du nicht empfangen hast?“ (1Kor 4,7). Wir sind tatsächlich nur eine im höchsten Sinne des Wortes „nutzlose“ Ausstrahlung der Gottesherrlichkeit, so wie die Schönheit „unnützlich“ ist.

Deshalb singen die Christen beim Gloria der Messe: Wir sagen Dir Dank ob Deiner großen Herrlichkeit. Wir sind da, allein um zu leuchten, ja um Seine ewige unvergängliche Schönheit auf geheimnisvolle Weise ausstrahlen zu lassen. Es wird immer Leute geben, die das Leben und die Existenz verfluchen, weil sie – wie sie sagen – „schlechte Erfahrungen“ gemacht haben. Abgesehen davon, dass viele Menschen sich in das Übel – zwar unbewusst, aber tatsächlich – werfen, weil sie von Kindheit an eine große Angst davor und eine sehr einseitige und fatalistische Anschauung der Dinge besessen haben, sollte man im Laufe der Zeit lernen, dass es auf dieser Welt Schatten gibt, gerade weil das Licht ausstrahlt. Damit gibt es aber auch ein hoffnungsvolles Zusammensein mit dem Bösen in mir und in den anderen, im Augenblick und in der Geschichte.

Dankbarkeit – immer

Leben bedeutet, aus dem Nichts zum Dasein, bzw. zu einer beschränkten, aber ziemlich großen Zahl von Existenzmöglichkeiten entsprungen zu sein. Leid und Glück sind nur Farben der Liebe, die uns zum Leben gerufen hat und Augenblick für Augenblick zum Leben ruft. Deshalb müssen wir mit Dankbarkeit empfangen, auch wegen der verschiedenen freien Möglichkeiten, die sie (Leid und Glück) dem persönlichen Schicksal offenbaren und zur Verfügung stellen.

„Alles, was uns zustoßen kann, ist anzubeten“, hat León Bloy geschrieben, und die liebenswürdige, dramatische Hauptfigur des großartigen Romans von Bernanos, „Die Freude“, hat dasselbe ausgesprochen, mit diesen rührenden, einfachen Worten: „Ich nehme alles von Gott an, wie ich in meiner Kindheit jeden Samstag in der Schule meine Zensuren vorlesen hörte: ich dachte, ich bin noch einmal verschont worden.“ Oder, noch einfacher, wie es in einem alten französischen Schlager gesungen wurde:

Je n’avais rienet tu m’as tout donné:la joie de vivre,d’aimer et d’être aimé.Pour tout cela,quoiqu’il puisse arriver,Merci, trois fois,Merci! (Ich hatte nichts – und du hast mir alles gegeben: – Freude am Leben – am Lieben und Geliebtwerden – Für all das – geschehe, was geschehen kann: – Ich danke dir dreimal – ich danke dir).

Oberflächlicher als Schlagertexte sind auf jeden Fall Ressentiment und Verzweiflung, auch wenn beide so ernsthafte Gesichter zeigen. Man sollte die Kurzsichtigkeit und die Leichtsinnigkeit des Misstrauens und des Pessimismus endlich entlarven. Dankbar zu sein dagegen heißt Öffnung vor dem Fächer der Lebensmöglichkeiten, heißt, sich dem Rhythmus der geheimnisvollen Regierung des Alls anpassen, und damit an der kontinuierlichen Gottesschöpfung teilhaben.

Dankbarkeit bereitet Vertrauen zur Gegenwart und Hoffnung zur Zukunft: ein Leben in Freude, in der Erwartung immer neuer, unerwarteter, sogar widerspruchsvoller Liebesgaben. Die echte Dankbarkeit, wie die Hoffnung Gabriel Marcels, ist einzig jene, die auf das abzielt, was nicht von uns abhängt, und – demselben Dramatiker und Philosophen nach: Danken kann nur Für-uns-Danken sein – Danken für uns alle. Es ist ein Akt, der gewissermaßen die Gemeinschaft umschlingt, meine Gemeinschaft mit all denen, die an meinem Wagnis teilgenommen haben.

Entfaltung: Geschenk und Frucht der Dankbarkeit zugleich

Weihnachten und Ostern sind – als Offenbarung der alles übersteigenden und zu uns herabsteigenden Lebendigkeit Gottes – die größten und großzügigsten Geschenke, die wir Menschen je empfangen haben. Wie viele bloß höfliche „Dankeschön“ werden an diesen Tagen ausgesprochen! Aber die innere Haltung des Dankes, die Gesinnung der Dankbarkeit, nicht nur dem schenkenden Menschen, sondern dem Leben, der neugeheilten Umwelt und Gott gegenüber wäre die beste Voraussetzung für den ersehnten freudigen Frieden unter den Menschen und zwischen den Menschen und Gott.

Außerhalb der Dankbarkeit rasen Täuschungen und Enttäuschungen, Idealismen und Materialismen, Sucht und Krieg. Wer nicht dankbar lebt, hat die Gottesgabe von sich gewiesen – und ist schon in der Angst -, oder hat nicht einmal die göttliche Schönheit in seiner Existenz wahrgenommen – und ist blind und unglücklich. Aus Dankbarkeit bewahrt der bewusste Mensch die Gabe des Lebens rein und unversehrt und lässt alle ihre Möglichkeiten frei zur Entfaltung gelangen: Nichts in ihm bleibt fruchtlos, nichts in ihm wächst krumm oder schlampig. Alle Tugenden entspringen aus der Dank-Grundhaltung, in einer Frische und Bescheidenheit, die ihre Echtheit bestätigen und die jede künstliche Anstrengung und die Schaustellung der sogenannten Willenskraft vermeiden. Jeder Atemzug ist Dankbarkeit, und ein solcher Lebenshauch wird nichts anderes als Gebet.

Wer hat heute noch vor Gott eine ständige, unermüdliche Haltung des Dank-Sagens und des Dank-Wissens aufbewahrt? Von den zehn von Jesus geheilten Aussätzigen kam nur einer zurück, um ihm zu danken. „Und er war ein Samariter“ (Lk 17,16). Die ewige Geschichte: Nur demütige Menschen, auch wenn sie Sünder sind, können die Großzügigkeit der empfangenen Gaben erkennen und deshalb diese Freude der Dankbarkeit erreichen.

Verlangen, begehren und bitten ist menschlich, aber in schlechten und guten Zeiten gleich dankbar zu sein, ist allein Sache der Besten, der Feinfühlenden, man könnte sagen, der am meisten Sachlichen und Selbstbewussten.

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Johannes B. Torelló
* 7. November 1920 in Barcelona; † 15. August 2011 in Wien - war ein aus Spanien stammender österreichischer Geistlicher und römisch-katholischer Theologe sowie weltbekannter Neurologe und Psychiater. - Zahlreiche Werke über Themen des Grenzgebietes Psychiatrie-Seelsorge-Spiritualität. Mehrmals übersetzt wurden zwei Bücher: „Psicanalisi e confessione“ und „Psicologia Abierta“ (auf Deutsch ursprünglich als Essays in der Wiener Monatsschrift „Analyse“ erschienen). Andere Titel von Vorträgen, Aufsätzen usw.: Medizin, Krankheit, Sünde; Zölibat und Persönlichkeit; Was ist Berufung? Die Welt erneuern (Laienspiritualität); Über die Persönlichkeit der ungeborenen Menschen; Erziehung und Tugend; Glauben am Krankenbett; Arzt-Sein: Soziale Rolle oder personaler Auftrag? Die innere Strukturschwäche des Vaters in der heutigen Familie; Echte und falsche Erscheinungen; Schuld und Schuldgefühle; Die Familie, Nährboden der Persönlichkeitsentwicklung; Neurose und Spiritualität; Über den Trost; Lebensqualität in der Medizin.