Dario Pizzano
Über ein aus den Fugen geratenes Leben und seine unerwartete Wendung – Das ist schon verrückt: Da behauptet jemand, ihm sei Gott begegnet. An einem bestimmten Tag, zu einer bestimmten Uhrzeit. So recht in Worte fassen könne er es nicht. Doch mit seinem bisherigen Leben habe er radikal gebrochen. Die Geschichte schreibt er auf – aus therapeutischen Gründen, weil sein erstes Leben ihn fast zerstört hat; er ist seelisch ausgebrannt.
Aus dem Report wird ein Buch. Seit Mitte März ist es im Handel: „Exzess. Meine zwei Leben“. Der Autor: Dario Pizzano, 35, geboren in Göttingen, aufgewachsen in Duderstadt im Eichsfeld. Mutter Deutsche, Vater Italiener. Es ist eine packende Geschichte, die dieser Deutschitaliener erzählt. Keine nette „Hallo Mister Gott“-Plauderei, sondern das schonungslose Bekenntnis eines Mannes, der bis zum Exzess gelebt hat – und plötzlich ein zweite Chance bekommt.
Dem Leser eröffnet er eine Welt der Gegensätze, Brüche und Widersprüche. Kindheit, Scheidung der Eltern, Jugend, Auflehnung, Sehnsüchte, Verwahrlosung, Sinnsuche, Verzweiflung, Erfolge und Abstürze: Jahrelang hat Dario Pizzano einen Musikclub geführt, ist erfolgreich und beliebt. Nach außen immer gut drauf, doch innen leer, von Ängsten und Depressionen geplagt. Liebe, Wärme, Geborgenheit kennt er nicht.
Die, die ihm all das geben sollten, konnten oder wollten es nicht. Das Kind verkümmert seelisch. Seine Not wird übersehen. Der Jugendliche greift zu Alkohol, Drogen, flüchtet sich schließlich in erste erotische Abenteuer. Er sucht der inneren Leere zu entfliehen – immer wieder, mit immer höheren Dosen. Alkohol, Drogen, Sex. So lange bis es nicht mehr geht und das kaum Fassbare geschieht: eine Gotteserfahrung. Aber davon später.
Rückblende, 90er Jahre, Duderstadt.
Der Autor schreibt:
„Der Music-Pub läuft. Eine Riesenzeit! Neue Droge. Neue Mucke. Neue Szene. Punk is dead. Techno & House are on. Ich komplettiere jetzt das Arsenal meiner Kicks, habe zum Haschisch, dem Alkohol, den Zigaretten und den Frauen noch einige neue Begleiter für mich gefunden: chemische Amphetamine und Kokain! Whoow, Amphetamine – einen Moment stockt mir der Atem, als ich das Tütchen Stoff in Händen halte, von dem mir jemand gesagt hat, es würde mich leistungsfähiger und selbstbewusst machen ohne Ende. Ich kann es kaum erwarten, mir das Zeug durch die Nase zu ziehen. Nur eine kleine, weiße Linie bin ich jetzt noch vom Paradies entfernt.“
Der Rausch gehört zum Alltag, die Sucht wird verdrängt, die Lüge Teil des Systems. Das Leben des Dario Pizzano ist bereits seit Jahrzehnten aus den Fugen. Er weiß es und will es doch nicht wissen. Zerrüttete Verhältnisse, zerstörte Kindheit: Die Eltern trennten sich früh, die Mutter hat weitere Partner. Eine Schwester wird geboren. Ihr Vater ist nicht der eigene, sondern ein anderer. Familie bleibt Illusion. Es folgt Umzug auf Umzug. Freundschaften mit anderen Kindern gehen wieder verloren, nichts hat wirklich Bestand. Gesellschaftliches Normalmaß, akzeptiert und propagiert: Erfinde dich selbst, probiere aus, entdecke dich neu – ein zynisches Spiel. Menschen gehen daran zugrunde. Der Zeitgeist gebiert Kälte.
Durch die Trennung der Eltern ist das kindliche Koordinatensystem nachhaltig gestört. Der leibliche Vater hat sich abgesetzt, die Mutter ist überfordert. Dario Pizzano: „Sie ist eine sehr starke, wenn auch tief unglückliche, Frau. Ich spüre das. Sie leidet unter der Trennung von meinem Vater, wie ich darunter leide. Sie ist wütend auf ihn. Ich höre von ihr, dass er jetzt eine andere Frau liebt. Das verletzt sie sehr. Die Tränen und die Wut meiner Mutter – ich möchte sie nicht hören und sehen. Ich weine dann auch immer viel. Er ist doch mein Vater. Sie ist meine Mutter. Warum sind sie nicht bei mir? Sie sollen sich nicht streiten. Warum sind wir nicht zusammen? Ich verstehe das alles nicht.“
Schließlich hält der Junge es nicht mehr aus
Mit dreizehn Jahren verlässt er die Mutter, geht zum Vater. Der will seinen Sohn aber nicht. Schließlich überlässt er dem Heranwachsenden eine leer stehende Dreizimmerwohnung – und sich selbst. Das Erstaunliche: Obwohl er allein zurechtkommen muss und trotz seiner inneren Leere, eines mehr und mehr ausschweifenden Lebensstils und etlicher Abstürze schafft Dario Pizzano Schulabschluss und Berufsausbildung.
Es sind die italienischen Großeltern die zunächst dem Kind, dann dem Jugendlichen und jungen Mann zumindest für Wochen „Wunder der Gewöhnlichkeit“ schenken, die Wärme und Zuwendung, den Halt einer Familie, fast alles, was er braucht. Aufs Jahr gesehen ist das zuwenig und doch noch viel. Umso ärger trifft den jungen Erwachsenen die Nachricht vom Tod des Großvaters. Es ist der Anfang vom Ende oder vielmehr der Beginn von etwas Neuem.
November 2005. Der Alltag ist so grau wie die vorherrschende Farbe. Dario Pizzano sitzt im Wagen, bereit alles loszulassen, das Lenkrad, sein Leben – und steuert stattdessen auf eine Erfahrung zu, die sich menschlicher Ratio entzieht. Er begegnet Gott:
„Warum sich in meinem Mund plötzlich der Satz ‚Mein Gott, ich kann nicht mehr!‘ bildet, weiß ich nicht. Ich habe keinen Glauben. Und sage doch: ‚Mein Gott, ich kann einfach nicht mehr!‘ Da geschieht es. Ich fühle, dass JEMAND diesen Satz hört. Ich pralle zurück. Bin wie geschlagen. Körper, Seele, Geist – alles zugleich wird berührt. Ich zittere. Was ist das? Hilfe! Werde ich verrückt? Nein. Es ist keine Einbildung. Es ist wahr. Liebe, unfassbare Liebe durchdringt mich, ein Empfinden unendlicher Kraft und Sanftmut, ein so unfassbar starker Eindruck. Bringe den Wagen irgendwie zum Stehen, reiße den Schlüssel raus. Öffne die Fahrertür, wie um Luft zu schöpfen.“
Fazit
„Exzess – Meine zwei Leben“ ist ein schonungsloser, authentischer Bericht ein faszinierendes Buch. Wechselnde Zeitebenen schaffen Spannung. Die verblüffende Offenheit des Autors überzeugt. Der emotionalen Wucht und sprachlichen Dichte will man sich irgendwann nicht mehr entziehen. Die Lektüre fesselt. Wer Dario Pizzano liest, denkt unwillkürlich an den französischen Journalisten André Frossard. Sein Werk „Gott existiert. Ich bin ihm begegnet“ war in den 60er und 70er Jahren ein Bestseller. Ob „Exzess“ daran anknüpfen kann, bleibt abzuwarten. Doch gerade unter Jugendlichen dürfte das Buch viele Leser finden.