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Neulich wurde ich von einer Westfälischen Zeitung innerhalb eines Interviews zum Thema Verwöhnung gefragt: Welche Kinder sind robuster? Diejenigen, denen die Eltern ein Leben im Schongang ermöglichten oder diejenigen, welche reichlich Herausforderungen zu bestehen hatten?

Ich habe mit folgenden Fragen reagiert:

Welche Blume wird die Witterungs-Schwankungen zwischen Kälte, Hitze oder Trockenheit wohl eher verkraften, – eine frisch aus dem Treibhaus kommende oder eine im Freiland herangewachsene?

Welche Tanne wird wohl eher dem Sturm trotzen? Eine die seit 20 Jahren am Rand eines Waldgebietes wächst oder eine im gut geschützten Mittelfeld der Schonung?

Welches Tier wird wohl die besseren Voraussetzungen zum Überleben haben? Das in einer geschützten Ecke mit umsorgender Verpflegung oder das in dem rauen Umfeld aufgewachsene?

Die Natur verdeutlicht den Zusammenhang immer wieder und gibt eindeutige Antworten:

Treibhausprodukte sind sehr empfindlich, Freiland-Pflanzen haben von der Aussaat an mit Kälte, Hitze oder Trockenheit umgehen gelernt.

Die Bäume, welche am Rande einer Schonung wachsen, haben sich seit ihrer Pflanzung mit ihren Wurzel tief in den Boden arbeiten müssen, um eine Zukunft haben zu können, sie sind standfester. Das Holz, welches beispielsweise auf felsigem Grund wächst, hat die beste Qualität und erzielt den höchsten Preis. Und Tiere, welche anstrengungslos – das heißt im Schongang – heranwachsen, werden nicht in Eigenständigkeit leben können.

Das Beispiel Schwertwal Keiko

Vor einigen Jahren veröffentlichten unterschiedliche Zeitungen (u.a. die Welt vom 10.5.1999) folgende Nachricht aus Seattle/USA: Der durch seine Rolle in dem Spielfilm ‘Free Willy’ bekannt gewordene Schwertwal Keiko macht seinen Besitzern Sorge. Das 20 Jahre alte Tier, welches 18 Jahre rundum versorgt aufwuchs, zeigt kein Interesse an der nun ermöglichten Freiheit in einer abgeschlossenen Bucht bei Island. Es will weiter gefüttert werden. Auch nach einer mehr als halbjährigen Auswilderung verhungert der Wal eher, als selbst per Fisch-Jagd für einen gefüllten Magen zu sorgen. Pflegepersonal und sonstige Bezugspersonen sind entsetzt. Schließlich haben sich doch alle um den Wal so bemüht, standen ständig zur Verfügung, haben ihm das Leben im noblen Meeres-Aquarium in Newport (Oregon) so angenehm wie möglich gestaltet, ihm reichlich Nahrung gegeben, damit er kräftig wird, um sich in der späteren Freiheit gut behaupten zu können. Und dies alles soll nicht gefruchtet haben?

Millionenbeträge wurden für aufwändige Trainingsprogramme investiert, um den Wal dazu zu bringen, sich seine Nahrung selbst zu beschaffen. Tiertherapeuten haben in Höchstform versucht, die verloren gegangene Eigenständigkeit neu zu entwickeln. Aber das Ergebnis war niederschmetternd. Er wollte einfach nicht.

Richten wir den Blick von Pflanzen, Bäumen und einem fern lebenden Meerestier auf die Situation des Heranwachsens von Kindern und Jugendlichen in unserer – zwischen wirtschaftlichem Wohlstand und sozialer Verarmung – pendelnden Wohlstands-Gesellschaft:

Schnell werden wir feststellen, dass es viele Parallelen zwischen diesen Beispielen und dem umsorgten Großwerden von ‘Franz oder Franziska Unbeschwert’ gibt. Fakt ist: Je häufiger fernab von einer altersgemäßen Herausforderung und Mitbeteiligung, unangemessen gefüttert, gemacht, organisiert, kurz ein Leben im Schlaraffenland arrangiert wird, um so intensiver wird das Erlernen des Lebens verhindert.

Mein Kurz-Fazit lautet:

Ob es um die Standfestigkeit von Bäumen oder Menschen, die Lebensfähigkeit von Walen oder Jugendlichen geht, jedes Lebewesen braucht die Herausforderung.

Denn Initiativen zur Entwicklung von Eigentätigkeit, Selbstverantwortung, Durchhaltevermögen, Problemlösungsfähigkeiten und Kreativität als Voraussetzung von Erfolg – und daraus resultierender Zufriedenheit – werden sich in der Unterforderungs-Falle nicht entwickeln.

Wenn Elternhaus und Schule diesem Trend nicht entgegenwirken, findet dies schnell einen gesellschaftlichen Widerhall. Die zukünftige Generation wird zu kraftlosen, ängstlichen, leistungsschwachen und unmotivierten Egoisten heranwachsen, welche nach ewigem Versorgt-Sein trachten.

Um nicht in einer düsteren Beschreibung stecken zu bleiben, hier ein perspektivischer Zugang, welcher sich an der Ermutigung für ein Leben in Eigenständigkeit und Selbstverantwortung orientiert. Denn alle Erziehung hat ja dem Ziel zu dienen, dass unser Nachwuchs im Alter zwischen 20 und 25 Jahren selbständig leben kann. Aber wie kann auf eine zukünftige gesellschaftliche Wirklichkeit hingearbeitet werden, die niemand genau kennt?

Dies wirft natürlich die Frage auf, wie Eltern, Erzieherinnen und Lehrkräfte, kurz alle an guten Bedingungen des Aufwachsens Beteiligte, dieser Aufgabe nachkommen.

Was die Erfahrung lehrt

Ich habe im Rückblick auf die großartigen technischen und kulturellen Meisterleistungen nach vernichtenden Kriegen und großen Katastrophen eine verblüffend einfache Antwort gefunden: Denn das, was diese Menschen ihre Not überwinden ließ, taugt auch für eine Vorbereitung auf die nächsten Jahrzehnte!

Denn Zielstrebigkeit, Mut, Kraft, Geschick, Ausdauer, Ideenreichtum, Verantwortungsbewusstsein und die Fähigkeit, mit anderen gemeinsam zu handeln, ließen nicht nur existentielle Not überwinden, sondern sind auch heute als die Schlüsselqualifikationen für das Bestehen des Einzelnen in immer differenzierter werdenden Arbeitsfelder in einem globalisierten Wirtschaftssystem zu betrachten.

Ziel einer jeden Vorbereitung auf das Leben in Beruf und Gesellschaft muss demnach sein, Kinder und Jugendliche von Anfang an – sowohl persönlich wie fachlich – stark zu machen.

Und je verlockender die Angebote einer Spaß- und Konsumgesellschaft sind, je stabiler müssen Kinder und Jugendliche werden, um nicht in einer solchen Unterforderungs- bzw. Verwöhn-Atmosphäre ins Versagen zu geraten. Denn das Leben ist oft eine harte Nuss und lässt sich daher nicht durch Weichlinge knacken. Nur starke Kinder werden sich mutig den vielfältigen Herausforderungen des Lebens stellen!

(wird fortgesetzt)

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Dr. Albert Wunsch
Dr. Albert Wunsch ist Psychologe und promovierter Erziehungswissenschaftler, Diplom Pädagoge und Diplom Sozialpädagoge. Bevor er 2004 eine Lehrtätigkeit an der Katholischen Hochschule NRW in Köln (Bereich Sozialwesen) begann, leitete er ca. 25 Jahre das Katholische Jugendamt in Neuss. Im Jahre 2013 begann er eine hauptamtliche Lehrtätigkeit an der Hochschule für Ökonomie und Management (FOM) in Essen / Neuss. Außerdem hat er seit vielen Jahren einen Lehrauftrag an der Philosophischen Fakultät der Uni Düsseldorf und arbeitet in eigener Praxis als Paar-, Erziehungs-, Lebens- und Konflikt-Berater sowie als Supervisor und Konflikt-Coach (DGSv). Er ist Vater von 2 Söhnen und Großvater von 3 Enkeltöchtern. Seine Bücher: Die Verwöhnungsfalle (auch in Korea und China erschienen), Abschied von der Spaßpädagogik, Boxenstopp für Paare und Mit mehr Selbst zum stabilen ICH - Resilienz als Basis der Persönlichkeitsbildung, lösten ein starkes Medienecho aus und machten ihn im deutschen Sprachbereich sehr bekannt.