Da unser leibseelisches Dasein zwei voneinander untrennbare Grundzüge aufweist – Selbstsein und Offenheit zum anderen -, hängt der ganze Entwicklungsvorgang der Persönlichkeit vom daseinsgemäßen Aufbau sowohl ihrer selbständigen Innerlichkeit als auch von der Ausweitung und Vertiefung ihrer Liebesfähigkeit ab.

Genauer ausgedrückt: Jedes Personwerden ist immer der mühevolle Prozeß der Hingabe eines einmaligen Ichs zum einmaligen Du – Gottes und des Mitmenschen. Und wirklich, menschliche Erziehung wird immer Erziehung zur Liebeshingabe sein, d.h. zum höchsten, spezifischen, selbstrealisierenden, beglückenden und immer von neuem einzuweihenden Akt der Freiheit.

So darf man die Entwicklung der Persönlichkeit als Reifungsprozeß der Freiheit betrachten, und in dieser Hinsicht werden diese Überlegungen vorgestellt.

Aber die größeren Wahrheiten werden seit vier Jahrhunderten mit immer kleinerem Mund ausgesprochen, denn die Wissensnüchternheit, der unbändige Drang nach subjektiver Gewißheit und der Gesundheitskult beherrschen und bestimmen das Denken und das Handeln neuzeitlicher Kultur. Man wollte und will um jeden Preis sachlich sein, und man ist langsam zu einer Sache geworden.

Man bemühte sich, mit beiden Füßen auf der Erde zu stehen, und so geht man – sicher ist sicher! – des öfteren auf allen Vieren. Man hat das geringe Wissen über die wichtigsten Dinge gegen die absolute Gewißheit über völlig belanglose Dinge eingetauscht. Wir wissen nämlich Sicheres über die brutale Genauigkeit eines Motors, eines bürokratischen Verfahrens, eines Computers, einer gefallsüchtigen Statistikmoral oder über die Galgenfrist eines Darlehens, die Konsequenz der Parteidisziplin und andere laute Gemeinheiten, dagegen wissen wir sehr wenig über das Wesen des Menschen, des Lebens, der Liebe, des Bösen, des Todes und Gottes selbst.

Und doch ist ein geringfügiges Wissen über solche Wirklichkeiten viel wichtiger, erfüllender und „praktischer“ als alle unsere Gewißheiten über Nebensächlichkeiten!1 Wir Menschen sind für das Wagnis gemacht, nicht für die grobe Sicherheit von Zahl und Stahl, von Blei und Vernünftelei!

Gewißheitssüchtig geworden, verraten wir unsere Bestimmung als Geschöpfe, die „wenig niedriger als die Engel gestellt wurden“2, also eher zum Fliegen als zum Kriechen, eher zur risikovollen Freiheit als zur gefahrlosen Existenz in irgendeinem Käfig. Sicherheitsbesessene werden darüberhinaus unvermeidlich Feiglinge, neurotisch Verklemmte, verkrampfte und bindungsunfähige Wesen, die von einer Person und deren Entfaltungsmöglichkeiten durch die Liebe nur karge Spuren behalten können: „Wer ist schon eine Person? Die meisten Menschen heutigen Tages sind Krankheiten oder Gerüche und immer nur Funktionäre irgendeiner Art“ (H. Von Doderer).

Denn wer vor den Geheimnissen, die das Menschenleben durchweben und umgeben, zurückschreckt, neigt dazu, den Verstand zu erniedrigen, das Herz einzuengen und das ganze Dasein zusammenzuschrumpfen, indem er in die Höhle der bloß meßbaren und machbaren Dinge Zuflucht nimmt und somit bestenfalls zu einem blinden Maulwurf wird.

Zu den höheren und höchst wichtigen Wirklichkeiten, die eine geringe positivistische Gewißheit anbieten, gehört die Freiheit, … die bekanntlich und eben deshalb oft auf bloße Ungebundenheit reduziert wird, sodaß das natürliche Streben nach Bewahrung und Entfaltung der Freiheit – mitten im scheinbar unaufhaltsamen Prozeß der Monotonisierung der Welt3 – auf grenzenlose Befreiung degradiert wurde.

Aber eine so armselig, beinahe physikalisch aufgefaßte Freiheit entspricht einer genauso armselig physikalisch aufgefaßten Menschenwelt, welche an und für sich die wesentliche Freiheit der Person immer mehr einschränkt und immer beängstigender bedroht. Über die vielen bereits verlorenen Freiheiten durch voranschreitende Technisierung, über die überall gedeihenden Techniken der Entwürdigung hat Gabriel Marcel in seinem Werk „Die Erniedrigung des Menschen“ meisterhafte Seiten geschrieben, darunter eine besonders eindrucksvolle, in der der berühmte Philosoph zeigt, daß in einer vom materialistischen Denken gelenkten Gesellschaft ein Mensch ein Minimum an Freiheit nur retten kann, wenn er sie und sich so unbedeutend macht, daß er die Aufmerksamkeit der Machthaber nicht auf sich lenkt.

Aber dieser Wille zur Unbedeutsamkeit, selbst wenn er zum Erfolg führen würde, schließt offensichtlich eine Art Selbstmord ein. In dieser Welt des allherrschenden positivistischen Denkens hat der Mensch eine einzige Chance, seine Freiheit zu retten: sich an die verpönten höheren, ja transzendenten Wirklichkeiten zu wenden, „an eine Ordnung des Geistes, die auch die der Gnade ist. Wir haben zu verkünden, daß wir nicht völlig dieser Welt der Dinge angehören, der man uns assimilieren, in der man uns mit aller Gewalt gefangen halten will.

Sehr konkret haben wir zu verkünden, daß dieses Leben, aus dem man mit den Möglichkeiten der Technik die fratzenhafte und scheußliche Parodie all dessen machen kann, was uns lieb und teuer ist, in Wirklichkeit nur ein unwichtiger Abschnitt einer Entwicklung sein kann, die sich jenseits des Sichtbaren fortsetzt. Mit anderen Worten heißt es, daß die Immanenzphilosophien ausgedient haben, daß sie heute von Grund aus ihre Irrealität … offenbart haben … Ein Mensch kann nur in dem Maße frei sein oder bleiben, als er mit dem Transzendenten verbunden bleibt.“4

So kommen wir sofort zu unserer Hauptthese: Im Rahmen einer stets voranschreitenden, total verwalteten Menschheit erweist sich die Familie – wenn sie sich christlich der Transzendenz ihres Wesens und ihrer Bestimmung bewußt ist – als der Hort der Freiheit, als die Rettungsstätte der Freiheit, als das hoffnungsvolle Sprungbrett einer neuen, freien Lebensart auf unserem Planeten.


1 J. Pieper, „Der Gewißheitsanspruch“. In „Studi Cattolici“ Nr. 228. 1980.

2 Ps. 8,6.

3 St. Zweig, In „Zeit und Welt“. Fischer Verlag. Nr. 2287 Taschenbuch S. 64.

4 G. Marcel, „Die Erniedrigung des Menschen“. Knecht Verlag 1964. S. 24-26.

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Johannes B. Torelló
* 7. November 1920 in Barcelona; † 15. August 2011 in Wien - war ein aus Spanien stammender österreichischer Geistlicher und römisch-katholischer Theologe sowie weltbekannter Neurologe und Psychiater. - Zahlreiche Werke über Themen des Grenzgebietes Psychiatrie-Seelsorge-Spiritualität. Mehrmals übersetzt wurden zwei Bücher: „Psicanalisi e confessione“ und „Psicologia Abierta“ (auf Deutsch ursprünglich als Essays in der Wiener Monatsschrift „Analyse“ erschienen). Andere Titel von Vorträgen, Aufsätzen usw.: Medizin, Krankheit, Sünde; Zölibat und Persönlichkeit; Was ist Berufung? Die Welt erneuern (Laienspiritualität); Über die Persönlichkeit der ungeborenen Menschen; Erziehung und Tugend; Glauben am Krankenbett; Arzt-Sein: Soziale Rolle oder personaler Auftrag? Die innere Strukturschwäche des Vaters in der heutigen Familie; Echte und falsche Erscheinungen; Schuld und Schuldgefühle; Die Familie, Nährboden der Persönlichkeitsentwicklung; Neurose und Spiritualität; Über den Trost; Lebensqualität in der Medizin.