Die Sache mit dem Nadelöhr

„Leichter geht ein Kamel durch ein Nadelöhr, als dass ein Reicher in das Reich Gottes gelangt“ (Mk. 10, 25). Dieser berühmte Ausspruch Jesu steht gewissermaßen an der Spitze einer Reihe von Aussagen des Neuen Testaments, die uns davor warnen, unser Herz an materielle Dinge zu hängen. Das Jesuswort schockierte in seiner „Radikalität“ schon damals die Jünger, und es hat seither nichts von seiner aufwühlenden Kraft verloren. Entsprechend groß war stets der Erklärungsaufwand diverser Exegeten. Je nach der Überzeugung der Ausleger bekommt die Deutung heutzutage leicht einen „anti-kapitalistischen“ oder aber einen generell „anti-materialistischen“ Dreh. Leider wird dabei oft der Zusammenhang vernachlässigt, in dem das Jesuswort steht[1]. Daneben gibt es Auslegungen, die allzu schnell zur versöhnlichen und tröstenden Aussage Jesu übergehen, dass bei Gott natürlich kein Ding unmöglich ist (ebd. v. 27). Wenn man freilich damit andeuten wollte, das alles sei doch „nicht so ernst gemeint“, dann gingen der eigentliche Gehalt und die Bedeutungstiefe der Aussage leicht verloren. Es lohnt sich genauer hinzusehen.

Das „unmögliche“ Bild vom Kamel und dem Nadelöhr hat in der Geschichte des Christentums (und in der Menschheitsgeschichte insgesamt) seit zweitausend Jahren einen ähnlich prägenden Eindruck gemacht, wie das Gleichnis vom barmherzigen Samariter. Und beide zusammen sind gewissermaßen christliche Ethik in Kurzform. Aber die Sache mit dem Kamel hat es wirklich in sich – von diversen philologischen Spitzfindigkeiten[2] ganz abgesehen.  

Antikapitalismus?

Dass es nicht um eine generelle Verurteilung großer Besitztümer geht, oder eine Art Bannfluch gegen Superreiche, das erkennt man an der Reaktion der Jünger: „Sie aber gerieten über alle Maßen außer sich vor Schrecken und sagten zueinander: Wer kann dann noch gerettet werden?“ (Mk. 10, 26). Die Jünger waren ja nun alles andere als reich; sie hatten aber verstanden, dass dieses Jesuswort nicht nur die „happy few“ an der Spitze der Gesellschaft trifft, sondern für jeden Menschen relevant ist[3].

Umso drastischer ist die enthaltene Warnung: Hängt nicht euer Herz an materielle Güter!  Sonst riskiert Ihr das zu verlieren, was wirklich zählt, was wertvoller ist als alles andere: Das Reich Gottes, die Erlösung, das ewige Leben. In dieselbe Richtung weist das ebenfalls viel zitierte Jesuswort „Ihr könnt nicht Gott dienen und dem Mammon“ (Mt.6, 24).

Immanenz versus Transzendenz?

Mit welchen Worten auch immer man es ausdrücken mag, weiß doch instinktiv jeder, was gemeint ist: Hier geht es ums Ganze, um das „Seelenheil“ oder – im Jargon unserer Zeit: um  „gelingendes Leben“, aber auf Dauer, über den irdischen Horizont hinaus. Ein gelingendes Leben in unserer materiellen Welt ist gut und wertvoll, aber es reicht alleine nicht, sondern führt sogar zu einem bitteren Ende: „So geht es einem, der nur für sich selbst Schätze sammelt, aber nicht reich ist bei Gott[4].

Mit der Grundsatzentscheidung, der wir uns sicher leicht anschließen können, dass man das Wohl und Wehe des eigenen Lebens – salopp gesagt: sein „Glück“ – nicht ausschließlich an das Materielle binden darf, ist es noch nicht getan. Damit bleibt das eigentliche Ziel des Jesuswortes immer noch außerhalb von uns, etwas, auf das man mit dem Finger zeigen kann. Wir sind doch nicht so…!

Was geht das mich an?

Was aber, wenn es um etwas geht, das in uns steckt, in unserem „Herzen“ verborgen ist, aber doch täglich wirksam für unser ganzes Leben? Wie oft legt sich die Sorge um den Lebensunterhalt[5] wie ein Schatten auf mein Gemüt. Eine unerwartete Belastung, eine überhöhte Rechnung, rote Zahlen auf dem Konto – das zieht runter… Wir sind „weiß Gott“ nicht reich, aber deshalb müssen wir erst recht auf das Geld achten. Ich stelle es bei mir selbst immer wieder fest, von den Mühen um die Steuererklärung bis zur Sorge um die Energierechnung – lauter berechtigte Sorgen, die aber meine Stimmung trüben, meinen Geist beschäftigen, meine Zeit in Anspruch nehmen.

Am Ende übernehmen diese Sorgen mein Selbst – eine „feindliche Übernahme“ quasi. Natürlich mache ich äußerlich weiter wie gewohnt, lebe mein Leben in Familie und Beruf, wie zuvor. Aber in meinem Innern dominiert das Materielle, krass gesagt: der Mammon. Und das gelingt ihm nur, weil ja Vernunft und Verantwortung auf seiner Seite zu stehen scheinen. Ist es nicht vernünftig, ja selbstverständlich, sich Sorgen zu machen? Na klar! Schließlich können wir nicht alle Bettelmönche werden! Haben wir nicht Verantwortung für Familie, Job, die Ordnung der Dinge? Natürlich!

Oder liegt es an der Quantität? Alles nur eine Frage von ein paar Zahlen an der richtigen Stelle? Wie leicht wäre es, sich von der Dominanz des Materiellen fern zu halten, wenn wir nie aus dem Bereich des wohltemperierten und abgesicherten Daseins herausgerissen würden. Oder? Wir wissen nur zu gut, dass sich dann dasselbe Drama nur auf einer etwas höheren Ebene abspielte; mit anderem Einsatz, aber nicht weniger nervend. Die Sorgen um Kleinigkeiten fesseln uns in Wirklichkeit ebenso sehr, wie den Armen der echte Kampf ums Überleben.

Erst kommt das Fressen…?

Jeder von uns muss sich erst einmal um sein und seiner Familie „Auskommen“ kümmern, bevor Zeit und Energie für „Extras“, für eine „Kür“ ist. Aber gerade dieser zwingenden Alltagslogik, die dem Materiellen automatisch immer den Vorrang[6] gibt („bei aller Liebe“ für das Gute, Wahre und Schöne…) erteilt Jesus eine Absage. Das ist der Stachel im Fleisch, der so schmerzt, dass schon damals die Jünger Jesu „über alle Maßen außer sich vor Schrecken waren“.

Das wären sie sicher nicht gewesen, wenn es nur um eine Art Reichensteuer gegangen wäre, oder um die (Selbst-) Enteignung von ein paar Wohlhabenden. Es ging und geht aber um etwas, was in unser aller Herz steckt, so tief drin, dass wir uns kaum lösen können davon: dass wir dem Vorläufigen und dem Bedingten stets den ersten Platz einräumen. Aber dieser Platz gehört nun mal Gott.


[1]Ausgangspunkt ist die Geschichte einer gescheiterten Berufung: Ein enthusiastischer junger Mann wirft sich Jesus buchstäblich vor die Füße und fragt danach, was ihm noch fehle zur Seligkeit. Die Antwort (den Besitz an die Armen verteilen) frustriert ihn; und plötzlich ist sein Enthusiasmus weg. Daran knüpft Jesus eine generelle Warnung.

[2]Das Wort für „Kamel“ im altgriechischen Urtext klingt, besonders in der Aussprache des hellenistischen Griechisch (Koiné) zur Zeit Jesu, ähnlich wie das Wort für Seil, Tau, Strick. Demnach könnte es auch heißen: Eher passt ein Tau durch ein Nadelöhr… Es gibt noch andere philologische Theorien, die das „unmögliche“ Bild erklären wollen (eine enge Pforte in der Stadtmauer Jerusalems…); sie haben sich aber in der exegetischen Wissenschaft nicht gegen die ursprüngliche Lesart durchgesetzt.

[3]Womit sich eine quasi-sozialistische Ausdeutung der Perikope von selbst verbietet. Auch ein bescheidener Besitz kann „abhängig“ machen, und wenn ein Armer nur von Besitz träumt, hat er ebenso ein Problem wie der reiche junge Mann in der o.g. Perikope. Bei dem Reichen ist es nur offensichtlicher.

[4]Im Gleichnis vom reichen Kornbauern, Lk . 12, 21.

[5]Vgl.   Lk. 12, 22 ff.

[6]In gewisser Weise ist das Jesuswort vom Kamel und dem Nadelöhr das exakte Gegenteil von Bertold Brechts Formel (aus der „Dreigroschenoper“): „Erst kommt das das Fressen, dann kommt die Moral“. Nur dass es hier um noch viel mehr geht als die Moral…