(Bild: Die Rückkehr des verlorenen Sohnes, Rembrandt, Ausschnitt)

Die fünfte Bitte des Vaterunser steht – wie die dritte – ein wenig quer zum Zeitgeist. Die meisten Zeitgenossen fühlen sich gar nicht schuldig; Begriffe wie „Sünde“ gelten als hoffnungslos veraltet, von „Erbsünde“ ganz zu schweigen, die gilt als geradezu verbotenes Relikt aus undefinierten finsteren Zeiten. Wenn man nun damit nichts anfangen kann, gerade auch niemanden verprügelt oder bestohlen hat und auf die kleinen Tricks eher stolz ist, mit denen man sich das Leben ab und zu erleichtert, wieso muss man dann Gott um Vergebung bitten?

Auch frommen Betern fällt es nicht immer leicht, sich klar zu machen, welchen elementaren Ernst die Bitte um Vergebung hat. Selbst wenn alle Fragen im Leben beantwortet scheinen – ob im Guten (weil alles Gute reichlich gegeben ist) oder im Schlechten (weil man völlig am Ende ist) – bleibt die Dringlichkeit dieser Bitte unverändert hoch. Es gibt im Neuen Testament eine Reihe sog. „Gerichtsworte“ Jesu, die heute nicht mehr gerne besprochen oder in Predigten behandelt werden. Wir müssen sie uns aber vor Augen halten, um zu verstehen, warum ihm die Bitte um Vergebung so wichtig ist (1).

Schuld gibt es im alltäglichen Umgang mit Bekannten und Kollegen, Verwandten, Freunden und Fremden.

Dass Jesus das Thema Schuld und Vergebung nicht mit der Nonchalance unserer säkularisierten, permissiven Gesellschaft betrachtet, zeigt sich in der Bergpredigt (vgl. Mt. 5, 27 ff.). Alles Böse, das Menschen einander antun, hinterlässt Schäden und Wunden, auch im Kleinen und scheinbar Unbedeutenden. Schuld ist eben nicht nur in Verbrechen und schwersten Lastern, von denen sich die meisten Menschen einigermaßen erfolgreich fernhalten. Schuld gibt es im alltäglichen Umgang mit Bekannten und Kollegen, Verwandten, Freunden und Fremden. Auch kleine Gemeinheiten können Leid erzeugen, und unbedeutend scheinende Lieblosigkeiten können verwunden. Hochmut, Arroganz, Gleichgültigkeit und Egoismus bewirken im ganz zivilisierten gewaltfreien, scheinbar friedlichen Alltagsleben jede Menge Leid. Deshalb ist Vergebung auch nicht mit einem billigen „Schwamm drüber“ getan (2).

Ein Grundverständnis davon ist eigentlich jedem Menschen gegeben; in allen Gesellschaften bittet man im Alltag immer wieder „um Entschuldigung“ – und sei es nur, um sich zu arrangieren und größeren Ärger zu vermeiden. In manchen Ländern, in denen dunkle Kapitel der Geschichte aufzuarbeiten sind, gibt es Versöhnungs- bzw. „Wahrheits-Kommissionen“, deren Aufgabe ausdrücklich nicht das Führen von Prozessen im Sinne materieller und juristischer Behandlung ist, sondern das reinigende, moralische Aufarbeiten der vergangenen Untaten.

Aber wenn es nicht nur um die offensichtlichen Extrem-Fälle geht, sondern Schuld auch in unserem zivilisierten Leben alltäglich präsent ist, wenn wir die Bergpredigt auch nur einmal halbwegs ernst nehmen, wird es dann nicht allzu unübersichtlich und anstrengend? Manch einer könnte sich überfordert fühlen und lieber in die Haltung desjenigen flüchten, der sich selbst irgendwie gut genug findet (s.o.).

Das Leiden und Sterben Jesu ist der unüberbietbare Akt der Wiedergutmachung und Versöhnung Gottes.

Aber als Christen können wir ganz gelassen sein und die Bitte um Vergebung sogar mit Freude (3) und Erleichterung aussprechen. Wir brauchen uns überhaupt nicht niedergedrückt und überfordert zu fühlen – weil uns Christus die Last schon abgenommen hat. Sein Leiden und Sterben war kein Unfall der Weltgeschichte, bei dem ein netter Rabbi irrtümlich umgebracht wurde, sondern der unüberbietbare Akt der Wiedergutmachung und Versöhnung Gottes. Warum sonst wäre ausgerechnet das Kreuz das Zeichen der Christen? Wir erinnern uns und unsere Nächsten jedes Mal daran, wenn wir das Kreuzzeichen machen.

Der Bitte um Vergebung folgt aber noch ein Nachsatz: „…wie auch wir vergeben unseren Schuldigern (4)“. Ist das nicht doch wieder eine belastende Bedingung, eine zu leistende Maßnahme, ohne die uns Gott nicht vergibt? Aber hier geht es nicht um ein Aufrechnen, sondern um eine Einstellung: Wenn Gott uns vergibt, können wir gar nicht anders, als auch selbst unseren Mitmenschen zu vergeben. Vergebung setzt Annahme voraus, und wem von Gott vergeben wird, der kann und will auch selbst vergeben.

Machen wir einmal die Gegenprobe: Je mehr wir uns an harte Bandagen, bissigen Umgang miteinander, an Auftrumpfen und Ellenbogentaktik gewöhnen, je mehr wir nur unseren Vorteil sehen und es normal finden, anderen auf die Füße zu treten, desto weniger sehen wir ein, wieso „um alles in der Welt“ wir dann denen vergeben sollten, die es ebenso machen und dabei uns verwundet oder angegriffen haben.

Wer glaubt, keine Vergebung zu brauchen, der kann auch selbst nicht vergeben.

An dem Beispiel zeigt sich: Wer glaubt, keine Vergebung zu brauchen, der kann auch selbst nicht vergeben. Ebenso gilt das Umgekehrte, Gott sei Dank: Wer weiß, dass er Vergebung braucht, vergibt auch seinen „Schuldigern“, der hat ihnen in seinem Innersten schon vergeben. Und dass genau dieser Gedanke hinter dem Nachsatz der fünften Vaterunserbitte steht, kann man sogar an einem sprachlichen Detail des Originaltextes erkennen, denn in der von Matthäus überlieferten Form lautet diese Stelle: „…wie auch wir unseren Schuldigern vergeben haben“ (5).

Jesus erklärt es in der Bergpredigt: „Wenn du deine Opfergabe zum Altar bringst und dir dabei einfällt, dass dein Bruder etwas gegen dich hat, so lass deine Gabe dort vor dem Altar liegen; geh und versöhne dich zuerst mit deinem Bruder, dann komm und opfere deine Gabe“ (6).

Die Kirche hält sich an dieses Gebot Jesu, wenn sie die Buße zur Voraussetzung des Empfangs der Sakramente, zur Teilnahme an der Eucharistie macht. Denn wenn wir zur Heiligen Messe gehen, sind wir ja in derselben Situation wie jener Mensch, der in Jesu Beispiel an den Altar tritt.


Anmerkungen

1) Vgl. z.B.Matth. 7, 13f., Matth. 12. 36 oder Lk. 3,7.

2) Vgl.: J. Ratzinger / Benedikt XVI.: Jesus von Nazareth, Bd. 1, a.a.O. S. 193: „Vergebung kostet etwas“. Natürlich ist hier nicht Geld gemeint, auch wenn es in allen Kulturen Entschädigungszahlungen und finanzielle Wiedergutmachung in gesellschaftlichen Streitfällen gibt. Hier geht es vielmehr um Liebe, Heilung, Wiedergutmachung im spirituellen Sinn.

3) Die ersten Christen fielen in der ihnen gegenüber oft feindseligen bis bedrohlichen Umwelt dadurch auf, dass sie trotz aller Not und Bedrängnis fröhlich und versöhnlich waren.

4) Also denen, die sich uns gegenüber schuldig gemacht haben.

5) Matth. 6, 12. Vgl. hierzu J. Ratzinger / Benedikt XVI.: Jesus von Nazareth, Bd. 1, S. 191.

6) Matth. 5, 23 f. Wie es um Schuld und Vergebung zwischen Gott und den Menschen und zwischen den Menschen untereinander steht, zeigt sehr plastisch auch das Gleichnis vom unbarmherzigen Gläubiger, Matth. 18, 23-35.


Vaterunser in Aramäischer Sprache