Wer elektrisches Licht benutze, der könne nicht gleichzeitig an Wunder glauben – so formulierte der berühmte evangelische Theologe Rudolf Bultmann ein Dilemma vieler seiner (und unserer) Zeitgenossen bei der Lektüre des Neuen Testaments. Der Name Bultmann steht für eine Art der historisch-kritischen Bibelexegese des 20. Jahrhunderts, die mit dem Schlagwort „Entmythologisierung“ bekannt geworden ist. Dahinter steht der Gedanke, der Text der Bibel müsse von Mythen und Legenden befreit werden, damit er für die Menschen des 20. Jahrhunderts, die nicht mehr an übernatürliche Eingriffe in ihre Welt glauben könnten, zumutbar werde.

„Entmythologisierung“ der Hl. Schrift

Bei der Interpretation des „entmythologisierten“ Rests des Neuen Testaments (der als solcher kaum mehr eine aus sich selbst verständliche Botschaft enthielte) griff Bultmann auf die Philosophie Martin Heideggers zurück; für die Auswahl dessen, was „Mythos“ ist oder nicht, reichten ihm dagegen schlichtere Kriterien (siehe oben…).

Ursprünglich bedeutete „historisch-kritische“ Auslegung der Bibel nur, dass die Text- und Überlieferungsgeschichte der Schriften des Alten und des Neuen Testaments mit Hilfe von Methoden historischer und literaturwissenschaftlicher Art erforscht wird. Kein anderes Werk ist jemals so gründlich und ausdauernd mit diesen Methoden untersucht worden wie die Bibel. In jüngerer Zeit kamen noch diverse Hilfswissenschaften hinzu, die mit naturwissenschaftlichen Verfahren zusätzliche Erkenntnisse, z.B. über das Alter von Papyrus-Fragmenten etc. lieferten.

Aber wo kommt nun das elektrische Licht ins Spiel? Haben wir infolge des Fortschritts von Naturwissenschaft und Technik in den vergangenen ca. 150 Jahren eine höhere allgemeine Erkenntnisfähigkeit erreicht, über den Bereich von Naturwissenschaft und Technik hinaus? Verschafft uns gewissermaßen das elektrische Licht ein deutlicheres Bild der Realität, so dass wir deshalb plötzlich erkennen, dass es keine Wunder geben kann? Und wohin rückt das die Theologen und Philosophen der früheren, nicht-elektrischen Jahrhunderte? War ihr Denken unpräzise und vorläufig, weil sie nur Öllampen und Kerzen kannten?

Vernunft und Glaube

Die Wahrhaftigkeit von Berichten über Wunder und andere transzendente Erfahrungen und Erlebnisse wurde schon in der Antike oft und heftig in Zweifel gezogen – nicht selten mit gutem Grund. Das Christentum „entstand“ in einer Zeit, die geprägt war von Mythen und Magie, Sekten und faulem Zauber aller Art (Ähnliches gibt es auch heute wieder). Damals unterschied sich der christliche Glaube gerade dadurch von den vielen Kulten und Religionen seiner Zeit, dass er magische Praktiken verwarf, einen „vernünftigen“ Glauben predigte und die Vereinbarkeit von Glaube und Vernunft (1) lebte.

Die ersten Christen standen in vielerlei Hinsicht der klassischen Philosophie (2) näher, als den unzähligen zeitgenössischen Religionen. Es ist wohl auch kein Zufall, dass der polytheistische „Mainstream“ – gewissermaßen die „political correctness“ jener Zeit – nicht nur manche Philosophen, sondern auch die frühen Christen der „Gottlosigkeit“ beschuldigte, weil sie die überlieferten Götter nicht anbeteten (was in Verbindung mit dem Kaiserkult zur tödlichen Gefahr für die Christen wurde). Der christliche Glaube enthielt also in gewisser Weise von Anfang an ein eigenes Element der Entmythologisierung seiner Umwelt – natürlich ohne dabei die Möglichkeit göttlichen Eingreifens und Wirkens in der Welt zu verwerfen.

Im Neuen Testament steht der Apostel Thomas stellvertretend für alle skeptischen Menschen, denen es schwer fällt, Realitäten anzuerkennen, die außerhalb des Bereichs unserer normalen Erfahrung liegen. Und noch im Augenblick unmittelbarer göttlicher Präsenz zweifeln einige Jünger – das NT berichtet ganz offen davon (vgl. Mt. 28, 17).

Der Begriff „Skepsis“ selbst stammt von einer antiken Philosophenschule. Und selbst die „Entmythologisierung“ der Bibel ist kein Projekt des 20. Jahrhunderts. Schon im 17. Jahrhundert begründete der jüdische Philosoph Baruch Spinoza Auslegungsverfahren für die heiligen Schriften, die man als frühe Form der historisch-kritischen Exegese bezeichnen kann. Alles ohne elektrisches Licht…

Noch eine kopernikanische Wende

Das Wissen darum, „was die Welt im Innersten zusammenhält“ (3) hat in den letzten 150 Jahren gewaltig zugenommen und bringt immer mehr und immer faszinierendere Erkenntnisse. Und gerade dieser enorme Zuwachs an naturwissenschaftlichem Wissen und technischem Können macht es den Menschen heute eigentlich leichter, ihren Glauben mit dem Wissen zusammen zu bringen. Wo bei oberflächlicher Betrachtung Glauben und Wissen Gegensätze zu sein schienen, zeigt sich bei genauerer Betrachtung – jenseits des schlichten Materialismus früherer Religionskritik –, dass beide nicht nur zusammen passen, sondern sogar notwendig zusammen gehören. „Gott steht für den Gläubigen am Anfang, für den Physiker am Ende allen Denkens“, so formulierte es Max Planck.

Die „spukhafte Fernwirkung“

Als Planck das nach ihm benannte „Wirkungsquantum“ entdeckte, hoffte er selbst noch, es werde anderen Physikern gelingen, seinen vermeintlichen „Fehler“ zu korrigieren – so sehr widersprach diese Entdeckung den Grundlagen der (bis dahin) klassischen Physik (4). Selbst Einstein vermochte zunächst nicht an das geheimnisvolle Phänomen der „Verschränkung“ zu glauben, das zwei Elementarteilchen aneinander bindet – wenn das eine zerfällt, dann zwingend auch das andere –, egal ob es in der Nähe ist oder am anderen Ende des Universums (mithin ohne Möglichkeit der „Kommunikation“); er nannte das zunächst abwertend eine „spukhafte Fernwirkung“, erkannte aber bald die Richtigkeit der Erkenntnis. Auch die Tatsache, dass die bloße Beobachtung das Verhalten von Elementarteilchen verändern kann, passt überhaupt nicht zum landläufigen Alltagsverständnis von „möglich“ oder „unmöglich“.

Das alles sind Entdeckungen der Physik, die der Lebenserfahrung des Menschen Hohn zu sprechen scheinen, aufgrund ihrer Komplexität schwer zu verstehen und die vor allem überhaupt nicht „anschaulich“ sind, weshalb sie das Weltbild unserer Zeitgenossen noch kaum berührt haben. Die Gesetze der Physik, die unser Leben bestimmen, haben ihre Bedeutung und Wirksamkeit natürlich nicht verloren. Wenn wir einen Gegenstand aus dem Fenster werfen, dann wird er weiterhin zu Boden fallen und vielleicht sogar zerbrechen. Aber wir erkennen – mit Hilfe naturwissenschaftlich-technischer Verfahren und Mittel –, dass die vertraute Welt unserer Alltagswirklichkeit gewissermaßen in einem Ozean faszinierend „unlogischer“ Gegebenheiten „schwimmt“. Anders formuliert: Unsere vertraute und geordnete Welt ist sozusagen in einem Rahmen des (für uns) Unbestimmbaren aufgehängt, den wir erst in Ansätzen erforscht haben und der sich jeglicher Anschaulichkeit im Sinne unserer gewohnten Erfahrungen entzieht.

Die philosophischen und erkenntnistheoretischen Schlussfolgerungen aus der Revolution der Physik seit dem Anfang des 20. Jahrhunderts sind noch längst nicht gezogen. Das mag eine Folge der weitgehenden Spezialisierung und immer weiteren Ausdifferenzierung der diversen Fachwissenschaften sein. Aufzuhalten ist das aber nicht. Es ist jedenfalls eine Ironie der (Wissenschafts-) Geschichte, dass Rudolf Bultmann sein Programm der „Entmythologisierung“ des Neuen Testamentes ausgerechnet in einer Zeit entwickelte, in der gerade jenes Weltbild seine Grundlage zu verlieren begann, auf Grund dessen er sich zum Handeln genötigt sah.

Bei Lichte betrachtet erkennen wir, dass es mehr Dinge zwischen Himmel und Erde gibt, als unsere frühere Schulweisheit (5) sich träumen ließ…


Anmerkungen
(1) Vgl. hierzu: Joseph Ratzinger / Benedikt XVI.: Jesus von Nazareth. Bd. 1, Freiburg 2008, passim.
(2) Vgl. z.B. Platon, bei dem sich sogar – im 4. Jahrhundert vor Christus! – eine Antizipation des Leidens des Gerechten findet, die auf verblüffende Weise an die Passion Jesu denken lässt (Politeia II, 361e-362a, zit. Nach J.Ratzinger/Benedikt XVI. Jesus von Nazareth, Bd. I, S. 120).
(3) In der klassischen Formulierung in Goethes „Faust“.
(4) Als der junge Max Planck sein Studium aufnehmen wollte, riet ihm ein Professor der Physik von diesem Fach ab – da sei längst alles erforscht…
(5) Frei nach Goethes „Faust“.