Die sechste Bitte des Vaterunser führt zuweilen zu kritischen Nachfragen: Ist Gott etwa selbst verantwortlich dafür, dass wir uns in allen möglichen Fallstricken verfangen – und damit womöglich auch dafür, dass wir uns schuldig machen? Manch einer, der so fragt, wittert sogar ein entlastendes Argument, ähnlich jenem, dass Gott uns nun mal so geschaffen habe wie wir sind und sich deshalb nicht wundern dürfe, dass wir „Fehler machen“. Aber Gott würde doch nicht versuchen, uns irgendwie „reinzulegen“?

Prüfung und Probe

Zur Klärung kann beitragen, sich das im griechischen Originaltext des Neuen Testaments verwendete Wort für „Versuchung“ genauer anzusehen (1). Dabei wird schnell klar, dass es hier um eine „Prüfung“ oder „Erprobung“ mit offenem Ausgang geht, und nicht um ein Fallenstellen oder gar ein Verlocken zu bösem Handeln.

Wir werden nicht arglos in Versuchung geführt, nicht ahnungslos irregeleitet, nicht gegen unseren Willen vom rechten Weg abgebracht (2). Auch sind wir keine willenlosen, „ferngesteuerten“ Wesen, die gar keine eigenen Entscheidungen treffen können (3). Aber gerade weil wir vernunftbegabte Menschen sind, die Wert auf Freiheit und Selbstbestimmung legen, stehen wir in unserem Leben doch immer wieder in einer Bewährungssituation.

Freiheit der Entscheidung

Gott nimmt uns ernst und lässt uns die Freiheit der Entscheidung, aber es geht nicht nur um eine einmalige, grundsätzliche Entscheidung. Die meisten Menschen würden sicher „richtig“ entscheiden, wenn sie einmal klar zwischen Gut und Böse zu wählen hätten. In unserem Leben stehen wir aber immer wieder vor Entscheidungen, ganz konkreten, vielen kleinen, scheinbar unbedeutenden. Dabei steckt oft – im wahrsten Sinne des Wortes – der Teufel im Detail.

So erinnert uns die sechste Vaterunserbitte, jedes Mal wenn wir sie sprechen, an die Verantwortung, die in jeder unserer Entscheidungen steckt. Es liegt in unserer Hand, was wir damit machen. Eigentlich müsste das unserem Selbstverständnis als sich autonom fühlende Menschen schmeicheln, da uns doch Selbstbestimmung ein so hohes Gut ist. Aber bewähren müssen wir uns nicht nur in der Stunde des Erfolgs, sondern auch im Scheitern, in Not und Bedrängnis – wenn wir „versucht“ sein könnten, uns mit Mitteln selbst zu helfen, von denen wir wissen, dass sie unrecht sind.

Auch heute sind wir gefordert

In einer offenen, permissiven Gesellschaft mit Reizüberflutung und ausufernden Angeboten jeglicher Art bekommt das ein wenig altmodisch anmutende Wort „Versuchung“ noch einen ganz neuen Klang. Ganze Berufszweige leben davon, uns von etwas zu überzeugen oder zu etwas zu bewegen: Werbebranche und Medien, aber auch Parteien, Vereine, NGOs etc. In der Masse der mehr oder minder harmlosen Angebote und Überredungen gehen die echten Versuchungen leicht unter, merken wir oft gar nicht mehr, wie wir zu Entscheidungen kommen.

Zu welchen grausigen Verirrungen der Gruppenzwang selbst kultivierte und gebildete Menschen auch heute noch führen kann, dafür gibt es nur zu viele Beispiele. Der Film „Die Welle“ schildert auf beklemmende und leider sehr realistische Weise, wie harmlose, zufällig ausgewählte Testpersonen in einem soziologischen Experiment die von ihnen zu spielende Rolle als Gefängnisaufseher unerwartet ernst nehmen und zu brutalen Peinigern anderer Teilnehmer werden. Möge Gott verhüten, dass wir einmal in so eine Situation geraten…

Bewährungssituationen

Bewährungssituationen, denen wir uns in unserem Alltag zu stellen haben, sind meistens harmloser und subtiler, aber deshalb nicht weniger ernst zu nehmen:

Wie weit gehen wir mit der Anpassung an das, was alle machen?

Wie ehrlich sind wir, oder wie treu, wenn es keiner sieht?

Was sind wir bereit zu opfern, um Erfolg zu haben und gut auszusehen?

Wie empfänglich sind wir für Leid, das wir sehen oder gar selbst mit verursachen?

Dass wir Verantwortung tragen, gehört zum menschlichen Leben, unterscheidet es von dem der Tiere, die nicht im engeren Sinne „verantwortlich“ sind. Weil wir uns aber nicht immer sicher sein können, weil wir oft schwach werden, deshalb bitten wir Gott, dass er unsere Schwäche berücksichtigen möge. Die Bitte „führe uns nicht in Versuchung“ lässt sich frei auch so übersetzen: „Nimm unser zur Schau getragenes Selbstbewusstsein nicht zum Nennwert, trau uns nicht zu viel zu…“ (4). Die sechste Vaterunserbitte ist zugleich immer auch ein Bekenntnis der Schwachheit und ein Akt der Demut.

Sehr tröstlich ist bei all dem, dass Jesus, der uns diese Bitte gegeben hat, sehr genau weiß, wovon er spricht. Er wurde auch selbst in Versuchung geführt (5), hat die Probe bestanden, versteht aber, wie schwer das für uns ist, und er ist immer auf unserer Seite, wenn wir mit Demut beten.


Anmerkungen

1 Das altgriechische Wort „peirasmós“ findet sich außerhalb der Bibel nur sehr selten. Im biblischen Kontext kann es dreierlei bedeuten: a) Prüfung, Erprobung des Menschen durch Gott; b) Verlockung von Menschen zur Sünde; c) Herausforderung Gottes durch den Menschen. Dabei ergeben sich die einzelnen Bedeutungen immer aus dem inhaltlichen Zusammenhang. Vgl. hierzu: W. Bauer: Wörterbuch zum Neuen Testament, Berlin/New York 1971, Spalte 1270 f.

2 Jesus findet überaus scharfe Worte für diejenigen, die Unschuldige bewusst in Schuld verstricken, vgl. Mk. 9, 42.

3 Es gibt eine irreführende theologische Tradition des Determinismus, die dem Menschen die Freiheit zur Entscheidung abspricht, im Extremfall sogar davon ausgeht, Gott habe die einen Menschen von vorne herein zur Errettung und die anderen zur Verdammnis bestimmt. Aber dies widerspricht nicht nur elementar der Botschaft Jesu und der ganzen Bibel, es erklärt auch hier nichts, wo wir ja gerade aufgefordert sind, Gott um Hilfe und Rettung zu bitten.

4 J. Ratzinger / Benedikt XVI.: Jesus von Nazareth, Bd. 1, S. 198. Vgl. a 1.Kor, 10, 13.

5 Die Versuchung Jesu ist u.a. in Matth. 4, 1-11 beschrieben; vgl. dazu den Hebräerbrief, Kap. 2, 18: „Denn da er selbst in Versuchung geführt wurde und gelitten hat, kann er denen helfen, die in Versuchung geführt werden“.