Würde eine „Moral-Pille“ mit einem Schluck Orangensaft wirklich jeden Menschen in eine Mutter Theresa verwandeln? Es ist noch nicht lange her, dass der Bioethiker der Princeton Universität Peter Singer mit seiner Assistentin, Agata Sagan, in der New York Times die Entwicklung einer Moral-Pille vorschlug.

Ihre These: moralisches Verhalten beruht zumindest teilweise auf biochemischen Prozessen. Weshalb sollte also moralisches Verhalten nicht mit Medikamenten beeinflussbar sein.

Hier das von ihnen vorgestellte Szenario:

Sollte der Fortschritt der Hirnforschung tatsächlich biochemische Unterschiede zwischen Menschen, die anderen helfen und solchen, die es nicht tun, erweisen, könnte man dann nicht eine „Moral-Pille“ entwickeln, eine Droge, die uns hilfsbereit stimmt? Angesichts der zahllosen Studien, die biochemische Gegebenheiten mit Stimmung und Verhalten verknüpfen, und der Entwicklung von Medikamenten, diese zu beeinflussen, ist die Idee nahe liegend. Doch, würden Menschen diese Pillen nehmen wollen?

Wie zu erwarten war, provozierten Singer und Sagan’s Vorschläge eine Menge witziger Kommentare: Frauen brauchen keine Moral-Pillen, Männer aber wohl; wir hätten Bush und Cheney damit versorgen sollen; würden die Pillen auch bei Wall-Street Bankern wirken….und so fort. Doch ist der Vorschlag offensichtlich ernst gemeint und so sollte er auch ernst genommen werden.

Wichtigste Frage: würde es funktionieren? 

Erstens:

Die Menschen haben über Hunderte von Jahren mit Stimmungsmodulatoren aller Art experimentiert, doch haben sie alle ihre Probleme. Alkohol macht abhängig, Tabak ist krebserregend, Ecstasy kann zum Suizid führen. Man wird mit unvorhersehbaren und unangenehmen Nebeneffekten rechnen müssen. Würde solch eine Pille, zum Frühstück mit einem Glas Saft genommen, wirklich aus jedem Menschen eine Mutter Theresa machen?

Zweitens:

Wer bestimmt eigentlich, was moralisch ist? Die Gouverneure in „Schöne neue Welt“ dekretierten, moralisches Verhalten bedeute sanft, glücklich und gesetzestreu zu sein, weshalb die Bevölkerung regelmäßig „Soma“ nehmen müsse. Möchte die Staatsgewalt lieber den sanften Pazifismus eines Buddha oder das kriegerische Ethos eines Nietzsche? Was würde Regierungen hindern, mit Hilfe von Drogen ihre Soldaten erbarmungslos, verwegen und brutal zu stimmen?

Drittens:

Die Moral-Pille könnte ein attraktives Mittel in der Hand von Regierungen werden, die fügsame Bürger bevorzugen. Tatsächlich haben Geheimdienste oft Drogen benutzt, um ihre Kunden „moralisch“ zu stimmen. In einigen Ländern und in einer Reihe amerikanischer Staaten haben Sexualstraftäter die Option, sich medikamentös kastrieren zu lassen. Sowietische Psychiater verwandten Drogen, um Dissidenten von ihrer Neigung zum Abweichlertum zu kurieren.

Einige Bioethiker bemühen sich jetzt schon, soziale Kontrolle durch Drogen zu rechtfertigen. Vor einigen Jahren veröffentlichte Julian Savulescu, vormals Student bei Peter Singer, heute Professor in Oxford, als Koautor ein Papier mit folgenden Statements:

Sollten eines Tages sicher wirkende Moralverstärker entwickelt werden, muss man davon ausgehen, dass ihre Anwendung obligatorisch wird, so wie Schulpflicht, Fluoridierung des Trinkwassers etc., da diejenigen, die sie auf jeden Fall nehmen sollten, am wenigsten geneigt sein werden, sie zu konsumieren. Das bedeutet, dass sichere und effiziente Moralverstärkung verpflichtend werden müsse.

Viertens:

Ein größeres philosophisches Problem ist die moralische Rechtfertigung zur Verordnung von Moral-Pillen. Diese Pillen würden unsere Autonomie und unseren freien Willen untergraben, also das, was die meisten Menschen als das ansehen, was uns zu weiten Teilen als Menschen ausmacht. Werden Menschen per se moralischer, wenn Pillen einfach Impulse, sich asozial zu verhalten, unterdrücken, oder legen diese Pillen, als vom Verstand geschmiedete Ketten unserer Freiheit Handschellen an?
Singer and Sagan rechnen natürlich mit diesem Einwand, sehen ihn aber nicht als stichhaltig an, da sie die Existenz eines freien Willens ohnehin in Abrede stellen.

Die Aussichten durch medikamentös verordnete Glückseligkeit soziale Probleme in den Griff zu bekommen, hat Schriftsteller von Homer (Die Lotusesser) bis Timothy Leary (LSD) fasziniert. Mit der Weiterentwicklung der Neurowissenschaften werden wir weitere ähnliche Vorschläge erwarten dürfen. Doch bei allem Respekt für Singer, den viele für den einflussreichsten lebenden Philosophen halten und seinen Schüler Savulescu, heute Professor in Oxford, bleibe ich doch mehr als nur ein bisschen skeptisch.