Vor eineinhalb Jahren saß ich im Büro des stellvertretenden Leiters der Schule, die meine Tochter besucht. Wir sprachen über ihre Lernschwierigkeiten und meine Frustrationen. „Was ich auch anstelle, ich schaffe es einfach nicht, das Kind zu motivieren, sich beim Lernen anzustrengen“, sagte ich. „Versuche ich, darauf zu bestehen, dass sie ihre Hausaufgaben macht – und zwar gut macht – ignoriert sie mich beharrlich, bis ich sie so sehr nerve, dass sie einen Wutanfall bekommt. 

Danach braucht sie den Rest des Tages, sich von ihrem Anfall zu erholen, anstatt ihre Hausaufgaben zu machen. Ich möchte wirklich nur, dass sie in der Schule entsprechend ihren Fähigkeiten mitkommt, doch sie wirft mir vor, sie zu sehr unter Druck zu setzen und ihr keine Zeit zu lassen, sie selbst zu sein. Doch ich habe keine Idee, wie ich sie ohne Druck ermutigen kann.“ Schließlich sagte ich noch: „Ich habe den Eindruck, dass ich meine Persönlichkeit ändern müsste, um eine gute Mutter zu sein.“ 

Ist Ihnen schon mal der Gedanke gekommen, dass Sie etwas an sich haben, was sich mit den Herausforderungen von Elternschaft nicht verträgt? Welche Persönlichkeit man eigentlich als gute Mutter, als guter Vater haben müsse? 

Ich könnte hier sicher eine ganze Liste der Qualitäten aufzählen, die gute Eltern ausmachen. Vielleicht ist es aber sinnvoller, die philosophische Frage zu stellen, was denn der Sinn der Elternschaft ist. Wenn wir uns von Aristoteles inspirieren lassen, können wir sagen, dass das Ziel, welches wir als Eltern erreichen wollen, uns vorgibt, welche Persönlichkeit wir als Erzieher sein müssen. 

Die Tiger Mutter 

Im Januar 2011 publizierte Amy Chua das umstrittene Buch Battle Hymn of the Tiger Mother (auf Deutsch unter dem Titel: Die Mutter des Erfolgs erschienen), das schnell zum Bestseller aufstieg. (Sie und ihr Ehemann Jed Rubenfeld, haben mit The Triple Package (auf Deutsch unter dem Titel: Alle Menschen sind gleich – Erfolgreiche nicht erschienen) ein weiteres Buch herausgebracht, das untersucht, weshalb manche Menschen in der Gesellschaft erfolgreicher sind, als andere.) In Battle Hymn beschreibt sie den Kampf, ihre beiden Töchter in gleicher Weise zu erziehen, wie sie selbst von ihren Eltern, chinesischen Einwanderern, erzogen wurde. 

Chuas Eltern waren äußerst strikt – sie ließen ihr keine „Eins minus“ durchgehen, verlangten Musik- und Mathematik-Übungen an jedem Tag, untersagten ihren Mädchen bei Freundinnen zu übernachten, Freunde zu haben und vieles mehr. Als Chua diese Methoden bei der Erziehung ihrer Töchter anwandte, wurden ihre Kinder rebellisch, was Chua dazu brachte, von Zeit zu Zeit recht extreme Maßnahmen zu ergreifen, damit ihre Kinder gehorchten. Chua wurde dafür heftig kritisiert, sie sei als Mutter zu brutal und fordernd. Doch ihre Methoden zahlten sich aus: eines ihrer Mädchen ist heute in Harvard, die andere in Yale eingeschrieben.

Ist Amy Chua eine Tiger-Mutter, so bin ich eine gescheiterte Tiger-Mutter. Ich habe strikte Regeln gesetzt, hohe Erwartungen gestellt, auf Arbeitsethos gepocht und Schreiduelle ertragen, doch ohne den gewünschten Erfolg. Anstatt aus ihr einen Star-Kandidaten für eine Elite Uni zu formen, haben diese Methoden meine Älteste nur frustriert und in ihrem Trotz bestärkt. 

Ich lehne diese Methoden nicht als schlecht ab, im Allgemeinen versuche ich diese Form der Erziehung anzuwenden, wobei ich Schreiduelle gern zu vermeiden suche. Doch musste ich die Perspektive hinsichtlich der gewünschten Ergebnisse meiner Bemühungen revidieren. Und weil ich nun auf ein anderes Ergebnis hin arbeite, musste ich auch meinen Fokus als Mutter ändern.

Als meine älteste Tochter noch Kind war, beeindruckte sie alle mit ihrem Charme, ihrer Einsicht, grenzenloser Energie und erstaunlicher Redegewandtheit. Jeder, der sie kannte war sicher, dass sie ein großes schulisches Potenzial habe. Doch, als der Ernst des Lebens für sie begann, scheiterte sie irgendwie schon im Kindergarten (?!!). Mein Mann und ich waren sicher, dass dies nur ein Missverständnis war. Doch im darauffolgenden Jahr bekam sie Probleme in der Schule und mehr noch im folgenden Jahr. Sie entwickelte eine Abneigung, die Schule zu besuchen und beklagte sich jeden Tag über Bauchschmerzen, um nicht gehen zu müssen. 

Ich raufte mir die Haare und suchte nach irgendwelchen Hilfen, um ihr zu einem Erfolg in der Schule zu verhelfen. Man diagnostizierte bei ihr ADHD, doch war ich immer noch überzeugt, dass sie Potenzial hat. Es musste mir nur gelingen, dieses freizusetzen. So kam ich zu dem Schluss, dass der beste Weg über Mathe- und Leseübungen gehen sollte und zwar jede Menge davon. So begann eine zehnjährige Ochsentour, bei der ich ständig hinterher war, dass sie extra Übungen absolvierte, um in der Schule mitzuhalten. Musik gehörte ebenfalls zum Hirntraining, deshalb musste auch täglich ein Instrument geübt werden. Problem war jedoch, dass sie sich gegen diese Sonderübungen sperrte und so brach unser Konflikt erst richtig los. 

Konflikte haben es an sich, zu eskalieren. Ich fand mich selbst in der Rolle eines unerbittlichen Trainers, der sie zur Erledigung von Hausaufgaben und Übungen antrieb. Ich duldete keine Bequemlichkeit und war harthörig, wenn sie sich beklagte, wie sehr sie doch ihre Arbeit hasste. Doch je fester ich auftrat, umso mehr gab sie mir kontra, bis schließlich unsere Beziehung ernsthaft begann, Schaden zu nehmen. 

Hier standen wir nun, eine miserable Einpeitscherin und eine ebenso miserable Untergebene und ich fragte mich: Wofür das alles? Geht es darum, in der Schule zu glänzen? Warum? Damit sie später eine gute Uni besuchen kann? Ist das alles, was ich als Mutter zu tun habe? Natürlich wusste ich, dass dem nicht so ist und doch tat ich so, als ob es so wäre. Die Überzeugung, meine Tochter mit Konzentration, Zielstrebigkeit, Unbeugsamkeit und Fleiß zu einem Ziel führen zu müssen, hatten mich angeleitet. Und, so wichtig solche Eigenschaften sein mochten, es gehört mehr dazu, eine Familie hochzubringen. Ich war entschlossen, mich zu ändern.

Als ich versuchte, mir darüber klar zu werden, was ich als Mutter denn besser machen sollte, erinnerte ich mich an eine Frage, die Aristoteles in seinem Buch Die Politik stellt. Er fragt, ob das „Gut-Sein“ eines guten Bürgers und das „Gut-Sein“ eines guten Menschen dasselbe sei. Um diese Frage zu beantworten, so sagt er, müsse man zunächst einmal definieren, was es bedeutet, ein guter Bürger zu sein. Ein guter Bürger, so Aristoteles, ist jemand, der seine Aufgabe in dem politischen System erfüllt, in dem er lebt, seinen Beruf gut ausübt und sich an Recht und Gesetz hält. Nun gibt es unterschiedliche politische Systeme mit unterschiedlichen Gesetzen, wobei es in einigen Systemen Gesetze gibt, die ein rechtschaffenes Leben nicht leicht machen. Da ein guter Mensch als rechtschaffener Mensch definiert ist – als Mensch, der das moralische Konzept des „Guten“ versteht und danach lebt -, zieht er den Schluss, dass ein guter Bürger nicht notwendigerweise immer ein guter Mensch sein müsse. Das „Gut-Sein“ eines Bürgers hängt von seiner Aufgabe im politischen System ab, was nicht unbedingt von ihm verlangen muss, ein rechtschaffener Mensch zu sein.

In gleicher Weise kann man die Frage stellen, ob das „Gut-Sein“ eines guten Vaters oder einer guten Mutter identisch ist mit dem „Gut-Sein“ eines guten Menschen. Aristoteles‘ Einsicht ist auch hier nützlich: Gute Eltern sind durch ihre Aufgaben als Eltern zu definieren.

Das Problem ist allerdings, dass es keine einheitliche Sicht auf solche Aufgaben gibt. Einige Aufgaben mögen in sich nicht einmal moralisch oder gut zu nennen sein. Wenn die Eltern sich z. B. die Aufgabe gestellt haben, aus ihrem Kind ein super Tennis-As zu machen, müssen sie nicht zwingend „tugendhafte“ Menschen sein, um dieses Ziel anzustreben. Sie müssen vielmehr Konzentration, Zielstrebigkeit, Unbeugsamkeit und harte Arbeit (um für all die Trainingsstunden zu bezahlen) aufwenden, doch diese Eigenschaften machen aus sich heraus einen Menschen weder gut noch schlecht, denn sie können sowohl guten, als auch schlechten Zielen dienen. 

Denkt man in Aristotelischen Kategorien weiter, so gilt das „Gut-Sein“ eines guten Elternteils ebenso viel, wie das „Gut-Sein“ eines guten Menschen, wenn die Eltern überzeugt sind, eine moralische Zielsetzung zu haben. Ich habe weder das Ziel, eine Konzertpianistin oder eine Olympionikin, geschweige denn eine Harvard-Absolventin mit Prädikatsexamen großzuziehen. Ich möchte meine Kinder dahin bringen, gut zu sein, Gott zu lieben und das Gute vom Bösen zu unterscheiden. Sie sollen offen sein, anderen helfen, Selbstvertrauen haben, eine moralisch einwandfreie Vorstellung von sinnstiftenden Beziehungen entwickeln, mit Schwierigkeiten umgehen lernen und ein sinnvolles Leben gestalten. Mir geht es um die Erziehung von Kindern, die fähig sind, zu lieben.

Wenn dies meine Zielsetzung als Mutter ist, muss ich mich selbst bemühen – manchmal ist dies hart -, ein guter Mensch zu sein. Ich kann meine Kinder nicht zu diesem Ziel führen, wenn ich es nicht selber mit aller Kraft anstrebe. Die Fähigkeiten als Einpeitscher mögen nützlich sein, doch genügen sie nicht. Die Fähigkeit, die ich wirklich brauche, um ein guter Mensch zu sein und meinen Kindern zu helfen, ist vorbehaltlose Liebe.

Heute früh um sechs zog ein ungewohnter, strenger Geruch durch unser Haus. Ich brauchte eine Weile, bis ich erkannte, dass Essenzen verdampft wurden, die beim Einatmen für bessere Konzentration sorgen sollten. Mir fiel ein, dass meine Älteste sich heute den Übergangstests unterzog, die sie bestehen musste, um die Uni besuchen zu können. „Jeder sagt, sie seien wirklich einfach, Mama“, sagte sie, „ich werde die erste sein, die sie nicht besteht.“

Sie tat mir leid, als mir bewusst wurde, wie sehr sie sich Sorgen machte und in dem Moment wurde mir klar, dass ich heute anders fühlte. Vor ein paar Jahren hätten mich ihre schlechten Noten besorgt, doch heute machte ich mir nur noch Sorgen um meine Tochter. 

Wenn sie heute Abend nach Hause kommt, werde ich sie fragen, wie es gelaufen ist. Wenn sie mir sagt, dass es nicht gut war, kann ich mit Sicherheit sagen, dass ich nicht ausrasten werde. Ich werde sie umarmen und ihr sagen, wie stolz ich bin, dass sie ihr Bestes gegeben hat. Wir werden uns darüber unterhalten, dass sie es ja im nächsten Jahr einfach noch einmal versuchen kann. Und ich werde ihr sagen, dass alles gut wird. 

Mein Ziel als Mutter ist größer, als nur der akademische Erfolg meiner Tochter. Es geht um die Erziehung eines Menschen zum Guten. Ich selbst fühle mich auch besser, seitdem ich diesen Weg gehe. Ich bin sicher, das macht eine gute Elternschaft aus.