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Geht die Schule auf die geäußerten Bedürfnisse oder den erkannten Bedarf ein?
„Nicht für die Schule, sondern für das Leben lernen wir“, so formulierte es vor ca. 2000 Jahren der römische Philosoph Seneca. Vermutlich kennt jeder Schüler diesen Satz. Aber führt das deutsche Schulsystem wirklich zu dieser Lebensbefähigung? Sollen die geäußerten Bedürfnisse von Schülern oder der deutlich werdende Bedarf im Zentrum der Lehrpläne stehen? Wird darauf gesetzt, Lernstoff in Kinderköpfe zu pfropfen oder geht es um die Förderung größtmöglicher Eigenverantwortung in der Auseinandersetzung mit vorgegebenen Lernaufgaben?
Fakt scheint zu sein, dass es bei vielen Schulabgängern neben erheblich fachlichen Defiziten gravierend an Lernbereitschaft, Eigenverantwortung, Pünktlichkeit, Kreativität, Durchhaltevermögen, Motivation und Wettbewerbswille mangelt. Ergänzend seien die Fähigkeiten zur eigenständigen Problemlösung zu unausgeprägt. Gleichzeitig suchen Betriebe händeringend lernbereite Auszubildende. „Potenzielle Störfälle“ sind jedoch unerwünscht. Als Problem-Ursache werden schwierige häusliche Verhältnisse, emotionale Vereinsamung, Lernfrust, Arbeitsentwöhnung, allgemeines Desinteresse und eine zu leichte Verfügbarkeit von Konsumartikeln und Online-Medien offensichtlich. Und auch die Hochschulen stehen vor der Problematik, dass die Ansprüche von Studierenden häufig wesentlich ausgeprägter sind als die Fähigkeit, sich mit Lernbereitschaft und Durchhaltevermögen ins Studium einzubringen.
„Noch nie in der gesamten bisherigen Geschichte der Menschheit hatten Kinder so wenig Möglichkeit, in Beziehung zu den ihnen von Natur aus emotional nahestehenden Personen aufzuwachsen. Ein historisches Novum, von dem wir nicht einmal ansatzweise vorhersagen können, welche verheerenden Folgen das für Natur, Kultur und Gesellschaft noch weiter nach sich ziehen wird.“ Der Kindheitsforscher und Autor Michael Hüter resümiert: „Kindern geht es (emotional) so schlecht wie nie zuvor.“ Daher müssen wir die hohe Entfremdung der Kinder von unserer Natur und grundlegenden Sozialbezügen beenden.
Ergänzend verdeutlicht Prof. Dr. Manfred Spitzer, Neurologe und Gehirn-Forscher an der Universität Ulm, in seinem Buch: „Einsamkeit“ eine zunehmende Ego-Zentrierung. So wurde im Jahre 2010 das Wort ICH um 42 Prozent mehr genutzt, als in den fünfzig Jahren zwischen 1960 und 2010. Gleichzeitig nahm die Nutzung des Wortes WIR um ca. zehn Prozent ab.
Der pädagogische Bezug als gelebte Bindungs-Erfahrung
Um diese vielfältigen Herausforderungen als Schule angemessener aufgreifen zu können, sind nicht in erster Linie Lehrplan-Reformen oder die Beschaffung modernster Lehrmittel in den Blick zu nehmen. Dazu sind Lehrerinnen und Lehrer erforderlich, die sich nicht vorrangig als Lernmoderatoren, sondern als zugewandte Identifikations-Persönlichkeiten mit vorbildhaften Eigenschaften in den Unterricht einbringen und auch für diese Tätigkeit als begabt und berufen erkennbar sind. Um diesen Gedanken besser einordnen zu können, soll hier ein hochaktueller reformpädagogischer Vordenker zu Wort kommen.
In dem 1926 erschienen Aufsatz „Gedanken für die Erziehungstätigkeit des Einzelnen mit besonderer Berücksichtigung der Erfahrungen von Freud und Adler“ verdichtete Herman Nohl seine Vorstellungen vom pädagogischen Bezug. Er stellt heraus, „dass das letzte Geheimnis der pädagogischen Arbeit der richtige pädagogische Bezug ist, das heißt das eigene schöpferische Verhältnis, das Erzieher und Zögling verbindet“. Dieses auf Merkmale wie Liebe, Vertrauen und Achtung aufbauende Verhältnis ist für Nohl „die Voraussetzung jeder fruchtbaren pädagogischen Arbeit“. Damit wird durch Nohl auch indirekt die Bedeutung der „Herzensbildung“ umrissen. Oder mit Worten der großen Pädagogen Pestalozzi und Fröbel: „Erziehung ist Vorbild und Liebe, sonst nichts!“ Die aus Frankreich stammende Redewendung „Was tut es denn, ob jemand Herzog oder Droschkenkutscher ist, wenn er Geist und Herzensbildung besitzt?“, bringt die Bedeutung dieser Gabe für das soziale Miteinander auf den Punkt.
Dieser positiv-wirkungsvolle pädagogische Bezug baut auf ein durch gegenseitige Wertschätzung geprägtes Verhältnis der älteren zur jüngeren Generation. Dabei geht es im Kern weniger um das, was „gelehrt“ wird, „sondern eben dieses reale Verhältnis selber (ist) ihr tiefster Gehalt und ihre letzte Bedingung.“ So ist für Nohl ein fehlender oder unguter pädagogischer Bezug auch die Ursache für viele Fehlentwicklungen und Störungen beim Heranwachsenden bis hin zur Verwahrlosung. Es ist gut nachvollziehbar, dass ein Psychotherapeutenkongress vor einigen Jahren resümierte, dass der Therapieerfolg zu über 60 Prozent vom Bezug zwischen dem Klienten und dem Therapeuten abhängt.
Ergänzend wird auf den Pionier der Bildungsforschung, John Bowlby, hingewiesen, da jeder gute pädagogische Bezug verlässliche Bindungs-Erfahrungen voraussetzt. Sie werden als gefühlsgetragenes Band deutlich, welches eine Person zu einer anderen Person knüpft und das sie in Verantwortung über Raum und Zeit miteinander verbindet. So schaffen verlässliche Bindungen einen abgesicherten Lebensraum, welcher wie ein Schutzmantel gegenüber möglichen aggressiven Umfeldeinflüssen wirkt. Ist dieser Schutz nur mangelhaft bzw. nicht durchgängig vorhanden, fehlt dem Kind der Mut, Neues erkunden zu wollen, werden Unsicherheit und Angst zu prägenden Lebensbegleitern. Somit fehlen dem Lernen gleichermaßen der Nährboden und das notwendige Wollen.
(wird fortgesetzt)