Unter allen Tugenden ist die Tapferkeit gewiss die „umstrittenste“. Während die Klugheit zwar oft in ihrer Eigenart als Tugend unterschätzt wird, aber doch positiv konnotiert ist, die Gerechtigkeit wiederum als höchst beliebt gelten kann, wenn sie auch nicht selten missverstanden wird[1], hat es die Tapferkeit schwer überhaupt noch als Tugend im engeren Sinne akzeptiert zu werden. Die Kritik kommt – ausgesprochen oder unausgesprochen – gleich aus mehreren Richtungen.
Eine Tugend unter Militarismusverdacht
Zu den ersten negativen und irritierenden Assoziationen gehört natürlich der Missbrauch der Tapferkeit durch totalitäre und militaristische Systeme, in Vergangenheit und Gegenwart. Tapferkeit wird in diesem Zusammenhang leicht mit Kadavergehorsam, blindwütigem Kampfeswillen und selbstzerstörerischem Furor identifiziert.
Aber auch ohne den Extremfall des Missbrauchs durch verbrecherische Regime haftet der Tapferkeit bei vielen Zeitgenossen ein gewisser Makel an – eben als vermeintlich typisch „soldatischer“ Tüchtigkeit, was zumindest in Deutschland nach den Schrecken des Nationalsozialismus äußerst kritisch gesehen wird. Worte wie „Tapferkeitsmedaille“ oder „tapferer Krieger“ verstellen den Blick darauf, dass eine solche kurzschlüssige, rein militärische Konnotation ein Produkt des zwanzigsten Jahrhunderts sein dürfte und dem Begriff und der Tugend selbst jedenfalls nicht gerecht wird.
Tapferkeit als ethischer Ladenhüter?
Im allgemeinmenschlichen, alltäglichen Gebrauch wiederum kommen Worte wie „tapfer“ und „Tapferkeit“ auch nicht gerade häufig vor, und wenn, dann meist in keinem guten Sinne. Ich erinnere mich mit Schrecken daran, als Kind miterlebt zu haben, wie nahe Verwandte einander schlimme Nachrichten von Krankheit und Tod mit den Worten „Du musst jetzt sehr tapfer sein“ nahe brachten. Solche Erlebnisse geben einem Begriff wie „Tapferkeit“ einen dumpfen und geradezu unheimlichen Klang, wenn auch gewiss zu Unrecht…
Aber selbst im kirchlichen Gebrauch unserer Tage hat die Tapferkeit keinen leichten Stand. Welcher Pfarrer würde in Deutschland diese Kardinaltugend noch zum Inhalt seiner Predigt machen? Im Wettbewerb der Sinngebungs-Angebote will ja niemand mit einer vermeintlich düsteren Nachricht gegenüber den Wohlfühl-Botschaftern zurückfallen – denn wie leicht können die weniger leuchtenden Ansagen mit Worten wie „Drohbotschaft“ oder „Durchhalteappell“ denunziert werden. Dabei brauchen wir heute die Tugend der Tapferkeit mehr denn je.
Was ist Tapferkeit eigentlich?
Als Tapferkeit (fortitudo) bezeichnet man jene Tugend, die uns fähig macht, für ein hohes Gut mit Festigkeit und Gerechtigkeit einzutreten, unter Inkaufnahme größter persönlicher Nachteile und auch gegen eine erdrückend wirkende Übermacht. „Als solche ist sie mehr oder weniger das Rückgrat aller Tugenden, da allen Tugenden eine gewisse Stärke und Festigkeit zukommen muss. Ihr eigentlicher Wirkungsbereich aber sind auftauchende Gefahren“[2]. In der Hierarchie der Kardinaltugenden steht die Tapferkeit allerdings erst an dritter Stelle, womit klar wird, dass es hier nicht um Draufgängertum, Gedankenlosigkeit oder Lebensverachtung geht.
Tapferkeit ist nicht Furchtlosigkeit
Es lässt sich nicht leugnen – die Tugend der Tapferkeit hat einen verborgenen Bezug zum Tod: „Tapferkeit setzt Verwundbarkeit voraus.“[3] Es ist eine Tugend, die uns stärker und näher an die Abgründe menschlicher Existenz, an die Realität der „conditio humana“[4] heranführt, als jede andere. Tapferkeit ist auch nicht zu verwechseln mit Furchtlosigkeit. Wer von Natur aus furchtlos ist, gar emotionslos, der ist deshalb noch lange nicht fähig Tapferkeit zu zeigen.
Wer gar unverwundbar oder unsterblich wäre wie ein Engel (im Rahmen unserer säkularisierten Alltagskultur mag man meinetwegen auch an einschlägige „Superhelden“ denken), der kann nicht „tapfer“ im eigentlichen Wortsinne sein. Tapferkeit beweist sich ja gerade darin, die naturgegebene Furcht überwinden, den selbstverständlichen Selbsterhaltungstrieb relativieren und im Angesicht einer Gefahr über sich hinauswachsen zu können.
Das Gegenteil von Todessehnsucht
Der klassische, auf dem Boden der christlichen Tradition gewachsene Begriff der Tapferkeit setzt eine nicht nur naturhafte, sondern eine ethisch fundierte Wertschätzung des Lebens voraus. Der Tapfere verachtet das Leben nicht; er nimmt das Risiko und die mögliche Verwundung bei seinem Tun nicht um ihrer selbst willen hin.
Es geht ihm immer um einen höheren Wert, um den Erhalt des Guten. Deshalb kann es Tapferkeit im christlichen Sinne niemals geben ohne Rückbindung an das Gute. Mit den Worten des Thomas von Aquin: „Das Lob der Tapferkeit hängt von der Gerechtigkeit ab“[5]. Wiederum zeigt sich, dass die Kardinaltugenden miteinander verbunden sind und in einer gewissen Ordnung zueinander stehen[6]. Es ist klar, dass das Handeln eines Selbstmordattentäters niemals „tapfer“ sein kann; es ist vielmehr eine teuflische Parodie von Tapferkeit.
Eine durch Verstümmelung des natürlichen Lebenstriebes und Verblendung des Verstandes zustande gekommene Lebensverachtung ist keine Tugend, sondern ein Laster[7].
Die Sache mit den Märtyrern
Wenn Tapferkeit zwingend an das Gute gebunden ist und Gerechtigkeit ebenso voraussetzt wie die Hochschätzung des menschlichen Lebens, dann stellt sich die Frage, wie es um die Tapferkeit der Märtyrer steht. In der christlichen Tradition ist der Märtyrer der exemplarische Anwendungsfall für die Tugend der Tapferkeit. Nach dem bisher Gesagten dürfte klar sein, dass es dabei nicht um Todeskult[8], Masochismus oder pseudo-romantische Verherrlichung des Märtyrertodes geht.
Der grausame Tod der Gläubigen ist niemals etwas, das leichtfertig hingenommen oder gar provoziert werden kann. Die frühchristliche Literatur aus der Zeit der römischen Christenverfolgungen ist voll von eindeutigen Stellungnahmen, die sich gegen eine oberflächliche Verklärung des Martyriums wenden[9].
Zugleich war und ist aber klar, dass Christ sein bedeutet, lieber den Tod zu akzeptieren, als den Glauben zu verleugnen. Das höchste Gut schlechthin, das ewige Leben, ist für die Gläubigen wertvoller, als das endliche, irdische Leben[10]. Vor diesem Hintergrund ist in der abendländischen Tradition der Begriff der Tapferkeit entwickelt worden.
Tapferkeit reloaded – Zivilcourage
Nun kann man sich fragen: Was geht mich das alles an? Wer von uns steht schon in einer so extremen Situation? Ist die Tapferkeit also nicht doch eine eher museale Tugend?
Es muss nicht immer um Leben und Tod gehen. Im ganz normalen Leben braucht man Tapferkeit auch in scheinbar banalen Situationen, die es aber oft genug in sich haben. „Ich behaupte, ein unvollkommener Mensch habe dazu, den Weg der Vollkommenheit zu gehen, mehr Tapferkeit nötig als dazu, plötzlich Märtyrer zu werden.[11]“ Mit diesen Worten weist die Kirchenlehrerin Teresa von Avila darauf hin, dass für die meisten Menschen der Ort der Bewährung der ganz gewöhnliche Alltag ist.
Wie aktuell die Tugend der Tapferkeit ist, zeigt sich, wenn wir uns klar machen, dass sie unter dem Namen „Zivilcourage“ schon mehrfach Comebacks gefeiert hat. Zivilcourage – dieses Wort drückt eben das aus: Tapferkeit in einem nicht militärischen Sinne; Tapferkeit in den alltäglichen Begebenheiten des Lebens; Eintreten für das Gute, auch wenn es uns einen hohen Preis kostet.
In einer Zeit, die geprägt ist von häufigen emotionalen Aufwallungen und einer immer schnelleren und immer aufdringlicheren Dauerkommunikation, kommen wir leicht in Situationen, die uns Bekenntnisse zu bestimmten politischen Forderungen abverlangen, egal ob wir das wollen oder nicht.
Das stellt uns immer häufiger auf die Probe – insbesondere wenn wir christliche Grundwerte offen vertreten, modischen Ideologien widersprechen und nicht gleich in allen Sprechchören mitschreien und nicht mit den Wölfen heulen wollen. Zwar geht es dabei nicht gleich um Kopf und Kragen, aber leicht um berufliche Sicherheit und Fortkommen, um Einvernehmen mit Nachbarn und Bekannten und um ein Leben in Frieden.
Wenn man uns nicht „in Frieden lässt“, dann stehen wir auch heute schnell vor der Bekenntnisfrage, und dann heißt es „tapfer sein“. Tapferkeit ist eben alles andere als eine altmodische Tugend; vielleicht ist es sogar die Tugend der Zukunft.
Anmerkungen
[1]Vgl. Beiträge zu den Tugenden Klugheit und Gerechtigkeit.
[2]R. Graber: Die Gaben des heiligen Geistes. Regensburg 1936. S. 101. Zit. nach F. Carvajal: Meditationen für jeden Tag. Bd. 3. S. 376. In der christlichen Tradition wird der Tugend der Tapferkeit eine der Gaben des Heiligen Geistes zugeordnet – die Stärke. Diese Gabe erst macht es dem Christen möglich, tapfer und (auch gegen alle Erwartungen) gelassen zugleich zu sein.
[3]Josef Pieper: Das Viergespann. Klugheit-Gerechtigkeit-Tapferkeit-Maß. München 1964. S. 165.
[4]Das ist die Befindlichkeit des Menschen als endliches, leidensfähiges, sterbliches Wesen.
[5]Noch schärfer formuliert es der Kirchenlehrer Ambrosius: „Tapferkeit ohne Gerechtigkeit ist ein Hebel des Bösen“. Zit. nach Pieper, a.a.O. S. 176.
[6]Vgl. Beitrag zur Tugend der Klugheit.
[7]Insofern ist die häufig geäußerte Qualifizierung solcher Attentate als „feige“ durchaus zutreffend, und zwar nicht nur für die Auftraggeber dieser Untaten, sondern auch für die Attentäter selbst, die aus dem Verborgenen, überfallartig und hinterhältig agieren, was schon im allgemeinmenschlichen Sprachgebrauch mit Begriffen wie „tapfer“ oder „mutig“ unvereinbar ist.
[8]Es dürfte sich eigentlich erübrigen darauf hinzuweisen, dass ein echter Glaubenszeuge das exakte Gegenbild eines Selbstmordattentäters ist; da aber leider der ehrwürdige Begriff des Märtyrers allzu oft missbraucht wird, eignet sich der hiesige Zusammenhang gut dazu, diese extreme Polarität noch einmal zu betonen.
[9]Vgl. z.B. Stellungnahmen der Bischofs Polycarp, Pieper a.a.O. S. 167.
[10]Dass die Gläubigen bereit sind, für ihren Glauben zu sterben, war immer ein besonderes Kennzeichen des Christentums, und es ist heute noch immer so, denn wir leben in einer Zeit, in der die Zahl der christlichen Märtyrer wahrscheinlich höher ist als je zuvor.
[11]Teresa von Avila, Leben, 13, 18. Zit. Nach Carvajal, a.a.O. S.374.