Tagtäglich beobachte ich in meiner Praxis den hohen Einsatz, den Mütter für die Familie zeigen. Gleichzeitig sehe ich, wie schnell Herausforderungen wie schlaflose Nächte, Missverständnisse in der Partnerschaft, Probleme bei der Arbeit oder in der Betreuung der Kinder sie in Sorgen und Ängste versetzen und sie chronisch ermüden. Bald spüren sie die Erschöpfung und merken, wie diese ihre Lebensfreude dämpft. Über die Jahre hinweg stelle ich schließlich fest, wie fatal sich die Belastung der Mütter auf die Familien auswirken kann. Häufig dauert die Situation so lange an, bis die Mutter krank wird und damit ein körperliches oder psychisches Alarmsignal sendet – dann endlich kommt Hilfe. Sie kommt aber oft viel zu spät.

Karella Easwaran

Das Geheimnis ausgeglichener Mütter – Starke Mütter, starke Familien, starke Gesellschaft. Kösel-Verlag, München, 2020, 271 Seiten, hier: 10 f. und 19 f.

Die Autorin ist Fachärztin für Kinder-und Jugendmedizin mit eigener Praxis in Köln und Expertin für Mind-Body-Medizin sowie der Theorie des „vorteilhaften Denkens“ www.beneficial-thinking.com

Neue Verhältnisse

Die enorme Belastung der Mütter und ihr Stress haben in den letzten Jahren deutlich zugenommen. Das hängt unter anderem mit der Veränderung der gesellschaftlichen Strukturen und des heutigen Familienbilds zusammen. Berufsausbildung, Studium und Berufseinstieg nehmen bei Frauen heute mehr Zeit in Anspruch, sie bekommen oft später Kinder. Dadurch verdichtet sich die Zeitspanne von Karriereplanung, Heirat und Familiengründung, was viele Paare unter Druck setzt. Neben dem Familienleben müssen meist zwei Berufswege unter einen Hut gebracht werden.

Die Anforderungen sind vielfältiger geworden, gleichzeitig steigen die Erwartungen an eine gelungene Eltern- und Partnerschaft. Die Mehrgenerationenfamilie gibt es immer seltener. Mit angemessener Anerkennung und Unterstützung aus ihrem Umfeld können Mütter nicht immer rechnen. Im Gegenteil: Auch wenn ihre Lebenspartner, Eltern und Arbeitgeber es eigentlich gut meinen, müssen sich Mütter nicht selten Aussprüche anhören, die sie erniedrigen und klein machen. Sie werden als chaotisch und labil bezeichnet, als gehetzt und unorganisiert. »Sie hat nichts im Griff«, heißt es schnell, wenn sich ihr Kind im Supermarkt vor lauter Trotz schreiend auf dem Boden wirft, oder wenn das Kind wieder einmal krank ist und sie deshalb nicht zur Arbeit kommen kann.

Stress

Laut dem Familienbericht der Landesregierung Baden-Württemberg von 2018 wenden Frauen mittleren Alters für Kinderbetreuung, Besorgungen, Hausarbeit und Pflege von Angehörigen im Schnitt 4,3 Stunden mehr auf als gleichaltrige Männer – pro Tag. Somit tragen vielerorts immer noch die Mütter die Familien – und sind damit elementare Stützen unserer Gesellschaft. Die Kinder, die mich jeden Tag in meiner Praxis besuchen, werden diese Gesellschaft in Zukunft mitgestalten. Der lebenslange Einsatz ihrer Mütter verdient daher deutlich mehr Anerkennung und Wertschätzung. Deshalb finde ich es enorm wichtig, den Fokus auf die Mütter, ihre Leistungen und ihren Stellenwert zu richten und dafür zu sorgen, dass die Gesellschaft ihre Belange erkennt und ernst nimmt.  (….) 

Stress ist der Krankmacher Nummer eins der modernen Gesellschaft und ist auch Ursache dafür, dass so viele Mütter am Rande ihrer Kräfte sind. Ihr Alltag ist von Zeitdruck bestimmt, sie bestehen eine Zerreißprobe nach der anderen, bevor sie abends völlig erschöpft ins Bett fallen. Doch selbst dort haben sie keine Ruhe. Gerade wenn ihre Tiefschlafphase begonnen hat, hat das Baby Hunger oder das Kita-Kind träumt schlecht und muss getröstet werden. Später kann es sein, dass eine Mutter gar nicht erst einschlafen kann, weil ihr Kind im Teenageralter nicht zur vereinbarten Zeit nach Hause gekommen ist. Ganz leicht passiert es da, dass Mütter vergessen, dass auch sie selbst Bedürfnisse haben.

Gesundheit

Die Sensibilität für den übergroßen Stress der Mütter und dessen Auswirkung auf ihre Gesundheit kommt erst langsam im gesellschaftlichen Bewusstsein an, zum Beispiel beim Thema postnatale Depression oder der leichteren Form des »Baby-Blues«. Wir alle wissen inzwischen, dass etwas ganz entscheidend nicht in Ordnung ist, wenn eine Frau noch Wochen nach der Geburt ihres Kindes ständig in Tränen ausbricht oder sagt: »Ich schaffe es kaum, morgens aufzustehen.« Wenn die Mutter nach einer Geburt über längere Zeit niedergeschlagen ist und keine Lebensfreude mehr verspürt, sollten diese Symptome mit einem Facharzt abgeklärt werden! Leider schwindet diese Aufmerksamkeit wenige Monaten nach der Geburt, doch der Stress für die Mütter bleibt. Schnell wird aus Schlafmangel eine dauerhafte Schlafstörung,

aus Lustlosigkeit wird der Verlust an Lebensfreude. Das kann jede Mutter treffen: von der Alleinerziehenden, die sich mühevoll mit wenig Geld und ohne Hilfe der Familiedurchschlagen muss, bis zur hochbezahlten Selbstständigen, die sich Putz- und Kinderfrau leisten kann. Und natürlich auch die Mütter, die von sich selbst dachten: »Mir kann das nicht passieren!« Tatsächlich ist für Mütter die Gefahr auszubrennen höher als für Spitzenmanager. Die Folgen von chronischem Stress reichen von Erschöpfungszuständen bis hin zu Depressionen, Burn-out und langfristig Demenz. Leider gibt es keine Medizin, die wir Ärzte gegen Stress verschreiben könnten. Nur gegen seine massiven Auswirkungen gibt es Medikamente und Therapien (oft genug kommen diese zu spät zum Einsatz). Aber was ist eigentlich Stress? Woher kommt er? Was bewirkt er in unserem Körper genau? Was können wir dagegen tun?

Wie können Mütter sich selbst helfen? 

In unserem Mittelhirn werden Licht- und Schallwellen, Gerüche und alle anderen Informationen mit unseren Erfahrungen abgeglichen und verarbeitet. So kommt es, dass zwei Menschen, die zu einem bestimmten Zeitpunkt exakt dasselbe erleben, einem Dritten völlig unterschiedlich davon erzählen. Wenn ein Optimist und ein Pessimist auf demselben Konzert waren, berichtet der Optimist begeistert von der tollen Musik und der Megastimmung, der Pessimist dagegen nörgelt herum, weil es ihm zu voll war und die Boxen zu laut dröhnten. Beide erzählen ihre individuelle

Wahrheit. Doch der Pessimist ist gestresst, unzufrieden, niedergeschlagen, wird häufiger krank; er hat es im Leben schwer. Der Optimist dagegen ist zufrieden und ausgeglichen und genießt entspannt das Leben. Gut, dass wir in der Lage sind, unsere Denkgewohnheiten zu verändern. Wir können jederzeit entscheiden und einüben, ob wir die Welt mit einem optimistischen oder pessimistischen Blick betrachten wollen. Genau hier setzt das Beneficial Thinking an. Durch bestimmte Übungen verändern wir die Art und Weise, wie wir in unserem Mittelhirn die einlaufenden Informationen interpretieren. Erlernte Denkweisen, die nicht vorteilhaft sind, werden immer schwächer und verschwinden mit der Zeit; neues, vorteilhaftes und vorwärts gewandtes Denken ersetzt das alte. Das passiert nicht über Nacht. Es braucht ungefähr drei Monate, bis eine neue Gewohnheit zuverlässig eingeübt ist. 


Artikel zuerst erschienen bei i-DAV e.V.