Tugenden – die nächste Ebene…

In einer früheren Reihe hatten wir uns mit den vier sog. „Kardinaltugenden“[1] beschäftigt, die man mit Fug und Recht als gemeinsames kulturelles Erbe der Menschheit bezeichnen kann. Bei ihrer Betrachtung war deutlich geworden, dass wir es mit „allgemein-menschlichen“ Werten und Erfahrungen zu tun haben, die bis zu einem gewissen Grad jedermann vermittelbar sind, unabhängig vom jeweiligen ethnischen, kulturellen oder religiösen Hintergrund. Das gilt trotz der Tatsache, dass wir die Definition und Deutung der Kardinaltugenden in dieser Form der christlich-abendländischen Tradition verdanken.  

Bei der Erörterung dieser „Kardinal-Tugenden“[2] war mehrfach festzustellen gewesen, dass sie jeweils nicht allein stehen können, sondern sich aufeinander beziehen, sich ergänzen und sogar gegenseitig bedingen. An einigen Stellen haben wir zudem bemerkt, dass sie über sich hinaus weisen bzw. der Ergänzung bedürfen. Auch das ist letztlich eine allgemeine menschliche Erfahrung. In der europäischen philosophischen Tradition werden die vier Kardinaltugenden deshalb durch drei „theologische“ oder „göttliche“ Tugenden ergänzt und vervollständigt: GlaubeHoffnung und Liebe[3].

Glaube (Fides)

Das Wort „glauben“ kann in einem eigentlichen, tieferen, aber auch in einem uneigentlichen Sinne gebraucht werden. Letzterer liegt vor, wenn wir es so verwenden, dass das Gemeinte auch durch andere Worte – wie meinenannehmendafürhaltenvermuten etc. – ausgedrückt werden könnte. Der eigentliche und tiefere Sinn des Wortes zeigt sich hingegen, wenn es kein Ersatzwort dafür gibt[4]. Wenn wir von „Glauben“ im diesem tieferen Sinne reden – und nur darum geht es hier – dann meinen wir damit die feste Überzeugung von einem Tatbestand, den man nicht direkt erkennen, also „wissen“ kann.

Glauben und Wissen

Das bedeutet keineswegs eine im Verhältnis zum „Wissen“ geringere Sicherheit der Zustimmung oder Erkenntnis, sondern eine genau so sichere, die jedoch einer anderen Kategorie des Erkennens zuzuordnen ist. Auch im nicht-religiösen Sinne kennen wir diese Art der Anerkennung einer Wahrheit. Die dem Wissen gleichwertige Sicherheit des Glaubens ergibt sich dabei immer aus einer personalen Beziehung. Der Glaube gründet auf einer Vertrauensbeziehung zu einer Person, deren Zeugnis wir annehmen. Das impliziert u.a. auch, dass – anders als im Falle des Wissens – niemand gezwungen werden kann zu glauben[5].

Trotz des Gesagten werden manche Zeitgenossen dem „Wissen“ den Vorzug geben, weil ihnen das bloße Zeugnis Anderer keine genügende Sicherheit zu geben scheint. Aber das ist ein Trugschluss, der auf eine gewisse intellektuelle Oberflächlichkeit oder Unaufmerksamkeit[6] zurückgeht. Unsere Lebenswirklichkeit ist voll von Anwendungsfällen, in denen wir auf das glaubwürdige Zeugnis vertrauenswürdiger Personen etwas bauen, das wir für „Wissen“ halten, obwohl es formal und logisch eher den Tatbestand des Glaubens erfüllt. Wir vertrauen dem Zeugnis von Wissenschaftlern, die uns physikalische Vorgänge erläutern, die wir unmöglich selbst erkennen und verifizieren können. Und kein Mensch kann in Familie und Gesellschaft leben, ohne einen Vertrauensvorschuss im Verhältnis zu anderen Menschen. Wie beim Wissen das Experiment, hilft uns beim Glauben die Erfahrung zur Bestätigung[7].

Arten des Glaubens

Mit dem Gesagten bewegen wir uns immer noch im allgemeinmenschlichen, bestenfalls vor-religiösen Raum. Bisher war nur die Rede davon, „etwas“ zu glauben, oder „jemandem“.  Das vollständige Bild bekommen wir aber erst dann, wenn wir einen entscheidenden Aspekt hinzu nehmen – den Glauben „an“ jemanden. Es ist klar, dass das in strengen Sinne nie für einen anderen Menschen gelten kann. Die Redensart „ich glaube an Dich“ im zwischenmenschlichen Bereich bedeutet ja nichts anderes, als eine aus Liebe oder Zuneigung ausgedrückte überschwengliche Ermutigung eines anderen Menschen – nicht zuletzt in Situationen, in denen der andere unserer moralischen Unterstützung dringend bedarf. Wiederum gilt, dass hier ein „uneigentlicher“ Sprachgebrauch vorliegt, wogegen im eigentlichen Sinne das „glauben an jemand“ eindeutig definiert ist: In der abendländischen Tradition kann es ausschließlich auf Gott bezogen sein.

In einer klassischen Definition, die auf den Kirchenvater Augustinus zurück geht, ist der Glaube im christlichen Sinne dreifach strukturiert: Deum credere, Deo credere, in Deum credere[8] – das bedeutet: Glauben dass Gott istGott glauben (in dem was er uns sagt), und an Gott glauben. Wir haben gesehen, dass Letzteres überhaupt nur mit Bezug auf Gott sinnvoll gesagt werden kann, während die anderen beiden Konnotationen auch im zwischenmenschlichen Bereich passen.  

Schnittstelle zur Erkenntnis

Auch und gerade ein fester und tiefer Glaube ist nicht nur mit Vernunft und Wissen kompatibel, sondern er bedarf ihrer sogar. Denn wenn Glauben heißt: „Teilhaben an der Erkenntnis eines Wissenden“[9] dann eröffnet das ganz automatisch dem Wunsch Tür und Tor, noch mehr zu erfahren, besser zu verstehen, tiefer zu begreifen. Daraus ergibt sich eine fruchtbare Unruhe (nach Pieper: „Denk-Unruhe“), in der philosophischen Tradition als „cogitatio“[10]bezeichnet. Und diese fruchtbare Unruhe (nicht mit Zweifel zu verwechseln, der in der Regel nicht fruchtbar ist) schafft die notwendige Schnittstelle zwischen Glauben und Vernunft, die das typische Wesens- und Alleinstellungsmerkmal des christlichen Glaubens schlechthin ist[11]

Alleinstellungsmerkmal des Christlichen

Keine andere Religion ist so durch den „Glauben“ definiert wie das Christentum, und keine andere Religion lädt deshalb (nach obiger Definition) so sehr zur Vernunft und Erkenntnis ein. Während das Schwergewicht bei anderen Weltreligionen eher auf der Observanz, der Befolgung bestimmter Regeln und Riten, basiert (z.B. im Islam), bzw. auf der Ehrfurcht vor dem göttlichen Gesetz (im Judentum[12]), ist der Kern der Christentums der persönliche Glaube[13].

Dass dies auch in unserem allgemeinen „post-christlichen“ Alltagsbewusstsein durchaus noch präsent ist, dafür kann schon der Sprachgebrauch ein Indiz sein. Es ist wenig gebräuchlich, vom „islamischen Glauben“ zu sprechen, vom „buddhistischen Glauben“ oder von hinduistischen etc. Solche Wortprägungen sind natürlich möglich und unmittelbar verständlich[14]; der übliche Sprachgebrauch verrät aber das ursprüngliche, dem  abendländischen Denken vertraute Verständnis einer Sonderstellung des Christentums als des Glaubens schlechthin. Der berühmte protestantische Theologe Karl Barth ging so weit, das Christentum in seinem Verständnis generell von den Religionen abzuheben.

Alte und neue Herausforderungen

Diesem personal verankerten Glauben standen in frühchristlicher Zeit die römische Religion und der Kaiserkult gegenüber, die ganz auf Obödienz gebaut waren und sich wenig um den Glaubensakt des Einzelnen kümmerten.

In ähnlicher Weise wird der christliche Glaube heute mit säkularistischen Ideologien konfrontiert, denen Glaubenschlechthin verdächtig erscheint, und die – ähnlich wie der römische Kaiserkult – stetige öffentliche Bekenntnisse zu ihren Prämissen fordern. Hinzu kommt in zunehmendem Maße die Konfrontierung durch einen rigoristischen Islam, der vom Einzelnen  mehr Unterwerfung als Glaube verlangt. Interessanterweise hat der post-moderne bis trans-humane Zeitgeist unserer Tage kaum Probleme damit, den Islam mit seinem eigentlich ganz entgegengesetzten, strengen Regelwerk in der Gesellschaft zu akzeptieren und willkommen zu heißen – anscheinend aus dem unterschwelligen Gefühl heraus, damit irgendwie einen Verbündeten gegen den Einfluss des christlichen Glaubens in der Gesellschaft gefunden zu haben. Denn dieser Glaube wird gerade aufgrund seiner personalen Grundlegung und seines Menschenbildes als permanente Herausforderung verstanden.

Wieso Tugend?

Der postmoderne Zeitgeist dürfte sich im Übrigen keinesfalls mit dem Gedanken anfreunden können, den „Glauben“ überhaupt als eine „Tugend“ zu betrachten – im Unterschied übrigens zu frommen Muslimen. Aber in der Tat bleibt nach all dem Gesagten die Frage noch immer offen: Warum ist der Glaube eine Tugend, und inwiefern ergänzt oder übertrifft er womöglich die Kardinaltugenden? Die kurze Antwort darauf lautet: Erst in der personalen Beziehung zu Gott ist es möglich, die anderen Tugenden in ihrer Fülle zu leben[15]. Tugenden als handlungsleitende Grundeinstellungen verhelfen uns zu einer gelungenen und verantwortbaren Lebensführung. Und in dieser Hinsicht ist der Glaube unübertroffen wirksam.

Aus dem Leben gegriffen

Nun kann man nach diesem philosophisch-theologischen Tour d‘horizon mit guten Gründen einwenden, dass das alles doch recht akademisch klinge und der lebensweltliche Bezug fehle. Deshalb zum Abschluss einige konkrete Proben aufs Exempel – aus der sehr konkreten Lebenswelt des Neuen Testaments – Beispiele, die  zeigen, warum der Glaube eine Tugend ist und warum es zugleich – trotz aller philosophischen und theologischen Argumentation – richtig ist  zu sagen „der Glaube ist einfach“[16]

Das Neue Testament berichtet uns von hoch gebildeten und von ganz einfachen Menschen, die durch ihren Glauben auffielen und denen diese Tugend Rettung brachte. Da war z.B. jene Frau, die nur aufgrund eines anscheinend ganz „naiven“ Glaubens von schwerer Krankheit geheilt wurde – weil sie in Jesus den „Messias“ erkannte[17]. Auch die „häretische“ Samaritanerin mit dem zweifelhaften Lebenswandel, mit der Jesus am Brunnen sprach[18] erfuhr dieselbe  Kraft des Glaubens an den Messias, gegen alle Wahrscheinlichkeit und Logik ihrer Umwelt. Und ähnlich ging es dem Hauptmann von Kapernaum, dessen Knecht geheilt wurde[19].

Quintessenz der Tugenden

Die Worte, die dieser heidnische römische Soldat an Jesus richtete, zeugen von einem geradezu herzerwärmenden Vertrauen, und sie sind nicht nur sprichwörtlich geworden, sie werden von den Gläubigen bis zum heutigen Tag in jeder Feier der Hl. Messe wiederholt: „Herr, ich bin nicht würdig, dass Du eingehst unter mein Dach, aber sprich nur ein Wort…“ Wir erleben hier den Glauben als eine Tugend, in der die anderen schon eingeschlossen oder vorausgesetzt sind:

– Die Klugheit, die Begegnung mit dem Meister auf die richtige Weise herbeizuführen.

– Die Gerechtigkeit, dem Nächsten gegenüber, unabhängig von dessen gesellschaftlicher Stellung.

– Die Tapferkeit, hindernde ethnische, religiöse und politische Schranken zu überwinden.

– Die Besonnenheit, vom Meister nicht zu viel zu verlangen, sondern demütig zu bleiben.

Das Beispiel zeigt: Die Kardinaltugenden ebnen den Weg, aber die entscheidende Tugend ist der Glaube.


Anmerkungen

[1]Vgl. Beiträge zu KlugheitGerechtigkeitTapferkeitBesonnenheit.

[2]Zur Etymologie des Begriffs: Nach dem lateinischen Wort „cardo“ (Tür-Angel) – Tugenden, die gewissermaßen den „Dreh- und Angelpunkt“ jeder Tugendlehre/Ethik ausmachen.

[3]Ich folge hier der klassischen Reihenfolge, wie sie der Apostel Paulus in seinem ersten Brief an die Gemeinde in Korinth formuliert hat: „Für jetzt bleiben Glaube, Hoffnung, Liebe, diese drei; doch am größten unter ihnen ist die Liebe“ (1 Kor 13,13).

[4]Vgl. hierzu: Josef Pieper: Lieben, hoffen, glauben. München 1986. S. 261 ff.

[5].Nach Augustinus:Nemo credit nisi volens. Zit. Nach Pieper a.a.O. S. 281.

[6]Sehr treffend bemerkt Pieper (a.a.O. S. 316) hierzu: „Zweifellos gibt es zum Beispiel einen Mangel an Offenheit, der – ohne irgendeinen ausdrücklichen Gestus der Abweisung und Verweigerung – nichts anderes ist als Unaufmerksamkeit“. Eine geradezu prophetische Deutung der Geisteshaltung der großen Mehrheit in unseren heutigen Gesellschaften.

[7]Davon unberührt bleibt die Rolle der Gnade bei der Vermittlung des Glaubens; ein Aspekt, der den Rahmen dieser Betrachtung sprengen würde, aber auch nicht zwingend in die Erörterung der Tugendlehre gehört.

[8]Vgl. Pieper, a.a.O. S. 307

[9]Pieper a.a.O. S. 289.

[10]Besonders von Thomas von Aquin meisterhaft erklärt.

[11]Vgl. hierzu die Enzykliken „Fides et ratio“ von Papst Joahannes Pauul II und „Lumen Fidei“ von Papst Franziskus (auf der Basis der Vorarbeit von Papst Benedikt XVI.)

[12]Die Orientierung des Judentums am Gesetz ist  dabei in keiner Weise als gedankenlose Obödienz zu verstehen. Vielmehr spielt die Liebe zum Gesetz für gläubige Juden eine ganz besondere Rolle.

[13]Damit ist natürlich nicht gesagt, dass es  persönlichen Glauben nicht auch in anderen Religionen gibt, wohl aber dass seine herausgehobene Stellung im Christentum einzigartig ist.

[14]Wie natürlich auch umgekehrt der Gebrauch von Ausdrücken wie „Christentum“ und „Christenheit“ normal und verbreitet ist.

[15]Erst die göttliche Gerechtigkeit, die immer zusammen zu denken ist mit der Barmherzigkeit Gottes, gibt der menschlichen Tugend ihr rechtes Maß, so dass sie weder rigoristisch überhöht, noch utilitaristisch verwässert werden kann. Auch die Tapferkeit als Tugend ist nicht denkbar ohne das Wissen um Erlösung und Vergebung; nur so wird daraus keine pathologische Fehlform. Dass die Besonnenheit,  die Tugend des rechten Maßes, in ihrer schönsten Form eine Frucht des Glaubens ist, davon spricht schon der Apostel Paulus (2 Tim. 1, 7: „Gott hat uns nicht einen Geist der Verzagtheit gegeben, sondern den Geist der Kraft, der Liebe und der Besonnenheit“).  Und schließlich ist die „leitende“ Kardinaltugend, die Klugheit, seit jeher als eine Gottesgabe verstanden worden.

[16]Mit den Worten Benedikts XVI. gesprochen.

[17]Matth. 9, 20 ff.

[18]Joh. 4, 7, ff.

[19]Matth. 8, 5ff.