Wilms, Tenbruck, Klingen, Scarbath, Löw R.
Sammelband S08
15 €
Von einem alten Indianer, der sein ganzes Leben in einem Reservat zugebracht hatte, wird berichtet, daß er sich nach seiner ersten Autofahrt, zu der er sich trotz anfänglicher Angst von einem Weißen überreden ließ, am Ziel angekommen, auf die Erde neben das Auto legte und auf die erstaunte Frage, was er da mache, antwortete: „Ich will warten, bis meine Seele nachgekommen ist.“
Die technische Entwicklung der letzten Jahrzehnte hat jeden einzelnen und die Gesellschaft insgesamt in allen Lebensbereichen mit sich gerissen. Dem Menschen blieb nicht die nötige Zeit, mit der Verarbeitung dieser neuen Situation, mit ihrer psychischen Bewältigung nachzukommen. So überfordert, machen sich die einen Luft in Kassandrarufen, indem sie beschwörend vor den Gefahren einer aus den Fugen geratenen technisierten Welt warnen; sie würden noch einmal, wie die Götter der griechischen Sage, Prometheus an den Felsen schmieden, weil er den Menschen das Feuer gebracht hat. Das andere Lager – jene blind auf den wissenschaftlichen Fortschritt eingeschworene Erobererschar – gibt optimistisch-ermunternde Durchstartparolen aus, indem jede Grenzüberschreitung als Verpflichtung und nicht als Gefahr der Hybris angesehen wird, jedes Einhalten und Besinnen aber schon als Rückschritt. Aber weder die undifferenzierte Euphorie, aller Fortschritt sei gut, noch die allgemeine Verteufelung, Technik sei böse, sind dazu angetan, den diffusen Hilf losigkeits- und Angstgefühlen zu begegnen, die nicht erst seit Tschernobyl aufgekommen sind.
So sehr man sich auch einig ist, daß der Schule als Hauptbildungseinrichtung ein Großteil der Aufgaben zufällt, der nachwachsenden Generation Hilfen zur Bewältigung eines durch die Errungenschaften und Gefahren einer fortschreitend technisierten Welt komplexer werdenden Lebens an die Hand zu geben, so uneins ist man sich über die einzuschlagende Richtung.
Verweigerungshaltungen und offener Protest vieler Jugendlicher weisen deutlich auf das pädagogische Defizit hin, das weder durch eine Ausweitung der Sachinformation noch durch bloße Einübung in technische Fertigkeiten behoben werden konnte. Eltern und Pädagogen sind vielmehr als lebenserfahrenere Generation von den Jugendlichen zu ethischen Stellungnahmen und Wertorientierungen herausgefordert. Der Angst und Aggressionen erzeugenden Desorientiertheit der jungen Generation, ihrem Gefühl der Machtlosigkeit und des Ausgeliefertseins ist nur zu begegnen, wenn die Seele, wenn der Geist – wie bei jenem Indianer – mit gültigen Antworten auf die Frage nach dem Wohin und dem Wozu des Fortschritts „nachkommt“. Zu dieser Verarbeitung gehört, den Fragen nach dem Menschen und seinem letzten Ziel, seiner Sinnerfüllung nicht auszuweichen. Seit je wurden erprobte Antworten den Jüngeren durch jene tradiert, die mit ihrem eigenen Leben glaubwürdig dafür einstehen. Die pädagogische Herausforderung durch die Technik ist an die heute Verantwortlichen gerichtet, jungen Menschen mit einer den technischen Konsumismus übersteigenden vorgelebten Glaubwürdigkeit zu begegnen, die auch ihnen sinnvolle Lebenswege erschließen kann.
Dieser Aufgabe sieht sich der vorliegende Sammelband verpflichtet, der aus Vorträgen der 8. pädagogischen Reihe, die im Jülicher Mädchengymnasium 1985/86 vor Eltern und Lehrern gehalten wurde, ergänzt durch zwei in das Rahmenthema sich einfügende Beiträge, erwachsen ist.
Im Beitrag der derzeitigen Bundesministerin für Bildung und Wissenschaft, Dorothee Wilms, steht die Frage nach der Stellung der Frau in Naturwissenschaft und Technik im Vordergrund, wobei auf die zusätzlichen Möglichkeiten, die der Frau ein Studium erschließt, um verantwortlich an der Gestaltung unserer Welt und der Gesellschaft mitzuwirken, besonders eingegangen wird. Der Tübinger Soziologe Friedrich H. Tenbruck setzt sich mit dem Einfluß seines Faches und der auch von der Soziologie erzeugten Wissenschaftsgläubigkeit und ihren Auswirkungen auf den heutigen Menschen kritisch auseinander. Er fordert dazu auf, wieder unverstellt die Wirklichkeit in den Blick zu nehmen, um so zu eigenverantwortlichem Handeln in der heutigen Gesellschaft zu gelangen.
Im ausführlichsten Beitrag des Sammelbandes beschäftigt sich Horst Scarbath mit dem tiefgreifenden Einfluß der neuen „Ersatzwirklichkeit Video“ auf den Menschen. Diese nachdenklich machende Auseinandersetzung kann Eltern und Lehrern zu einem tieferen Problembewußtsein gegenüber dieser neuen „Droge“ verhelfen.
Die aus der Praxis gewonnenen Einsatzmöglichkeiten von Computern in der Schule hat der Beitrag von Leo H. Klingen zum Thema, wobei auch die in der Informationstechnik liegenden Grenzen von ihm reflektiert werden.
Im Schlußbeitrag geht Reinhard Löw besonders auf die Notwendigkeit ein, ethische Aspekte in die Beschäftigung mit der Technik einzubeziehen. Darin trifft er sich mit dem Hauptanliegen dieses Bandes, Hilfen bei der menschlichen Bewältigung der neu entstehenden Probleme und Orientierungen zu geben, wie sich der Mensch angesichts einer sich immer stärker verändernden Welt noch als sittliche Person bewähren kann.
Dorothee Wilms, geb. 1929. Studium der Volkswirtschaftslehre, Sozialpolitik und Soziologie; 1956 Promotion; 1955 – 73 wissenschaftliche Referentin für Bildungspolitik im Deutschen Industrieinstitut Köln; 1974 – 76 sty. Bundesgeschäftsführerin der CDU; seit 1982 Bundesministerin für Bildung und Wissenschaft.
Friedrich H. Tenbruck, geb. 1919. Studium der Philosophie, Geschichte und Germanistik; 1944 Promotion; 1950 – 51 Studium der Sozialwissenschaften, Charlottesville, USA; 1957 – 62 Ass. Prof. für Soziologie, New York; 1960 – 62 Lehrauftrag an der Universität Freiburg; 1963 o. Prof. der Soziologie, Universität Frankfurt; seit 1967 an der Universität Tübingen.
Horst Scarbath, geb. 1938. Studium der Pädagogik, Psychologie, Germanistik, Anglistik, Theologie; 1966 Promotion. 1970 – 72 Professor für allgemeine Erziehungswissenschaft an der Universität Hamburg; seit 1973 dort o. Professor; seit 1970 Tätigkeit als Fachgutachter im Jugendmedienschutz.
Reinhard Löw, geb. 1949. Studium der Mathematik, Pharmazie, Philosophie und Geschichte, 1973 appr. Apotheker; 1977 Dr. rer. nat.; 1979 Dr. phil.; 1983 Habilitation in Philosophie; 1977 – 84 wiss. Ass., dann Prof. für Naturphilosophie an der Universität München.
Leo Klingen, geb. 1926. Studium der Mathematik, Physik und Chemie; 1955 Promotion; 1958 – 62 Auslandslehrer in La Paz; 1960 – 62 dort Professor; ab 1963 am Helmholtz-Gymnasium, Bonn, seit 1976 als Schulleiter; seit 1970 Lehrbeauftragter der Universität Köln; seit 1972 Mitglied der Fachgruppe Mathematik zur Curriculum-Entwicklung in NW