Zur Tugend des Maßes gehört auch Disziplin und Entsagung. Das wird in einer Kultur, in der das Wohlbefinden als wichtigstes Ziel herrscht, nicht geschätzt. Letztlich ist diese Tugend aber die Hüterin unserer Freiheit. Jemand, der meint, frei sein bedeute, sich seinem spontanen Verlangen ohne Einschränkung hingeben zu können, verfällt einer tragischen Täuschung: er ist Sklave seiner Triebe.

Die unnötigen „Notwendigkeiten“

Mäßig sein bedeutet, von den materiellen Gütern losgelöst zu sein, indem man sie zwar genießt, wenn man sie benötigt, sie jedoch nicht als notwendig erachtet, wenn sie es nicht wirklich sind und uns nur vermeintlich fehlen. Unser Herz darf sich nicht an sie hängen, sonst werden sie uns zum Hindernis des inneren Friedens. „Loslösung bedeutet nicht, die materiellen Güter zu verachten, sind die doch Gaben Gottes. Der Herr preist die Schönheit der Schöpfung; die Vögel des Himmels und die Blumen des Feldes stehen stellvertretend für alle Gaben der Natur. Aber dann erhebt er sich darüber: ,Euer himmlischer Vater weiß, dass ihr das alles braucht. Euch aber muss es zuerst um sein Reich und um seine Gerechtigkeit gehen; dann wird euch alles andere dazugegeben’“ (Carjaval, Meditationen IV, S. 140).

Der hl. Augustinus sagte einmal in einer Predigt: „Sucht das, was genügt; sucht das, was reicht. Strebt nicht nach mehr. Alles, was darüber hinaus- geht, ist eine Last, keine Erleichterung; denn sie bedrückt nur, statt aufzurichten“ (Sermo 85,6). Oft findet der Mensch Gott dort, wo er ihn nie erwartet hatte. „Wir suchen ihn in der Gesundheit, und er kommt in der Krankheit; wir suchen ihn in tausend Aktivitäten, und er kommt in der erzwungenen Untätigkeit eines Gebrechens: wir suchen ihn im Erfolg, und er kommt in einem geschäftlichen Ruin. Er hat, anders als die unsere, seine Logik. Wer kann den Verlust eines geliebten Menschen, den Schock, unheilbar krank zu sein, die Heimsuchung durch ein schweres Leiden logisch einordnen? Solche Geschicke stellen unser Vertrauen auf einen Schöpfer und Vater (…) auf eine harte Probe.

Das Unfassbare wird erst dann akzeptabel, wenn man sich einer übergeordneten, dem naturhaften Denken verborgenen Sicht der Wirklichkeit öffnet“ (Carjaval, Meditationen VI, S. 51). Diese Einstellung durchtränkt das ganze Leben eines Christen und erstreckt sich auch auf die Haltung gegenüber den Bequemlichkeiten im Haus oder den Arbeitswerkzeugen; ebenso offenbart sie sich in der Art und Weise, sich zu erholen.

Medienkonsum

Ein Beispiel von Mäßigkeit geben auch jene, die ihren Fernsehkonsum und den Gebrauch von neuen technischen Hilfsmitteln zu mäßigen wissen. Solche Einzelheiten können unwichtig scheinen, sind es aber in der Tat nicht. Denn wenn das menschliche Herz von einer Menge materieller Sorgen vereinnahmt ist, sucht es sich immer mehr zu befriedigen – mit Scheinfreuden – und kann die Stimme Gottes, der allein die Sehnsüchte des Menschen stillen kann, nicht mehr hören. Hier trifft das Gleichnis vom Sämann zu: „Was unter die Dornen fiel, das sind jene, die hören, aber dann hin- gehen und von den Sorgen, dem Reichtum und den Genüssen des Lebens erstickt werden und nicht zur Reife kommen“ (Lk 8,14). Anlässlich eines Zeitungsinterviews befragte man Mutter Teresa im Jahre 1986 zu den Themen Reichtum, Glück und Freiheit. „Die reichen Länder wissen nicht, wie arm sie sind“, antwortete sie. „Und auch in diesen Ländern gibt es viele, die Hunger leiden. Wir geben in New York, in London, in Rom usw. vielen hungrigen Menschen zu essen.

Aber das wirkliche Leid ist die Einsamkeit. In den reichen Ländern leiden sie diese schreckliche Armut: das Alleinsein. So viele Gemütskrankheiten. Deshalb trinken die Leute, um die Einsamkeit zu vergessen. Sie gehen nach Hause und trinken, um zu vergessen. Das ist zu 99 Prozent der Grund des Trinkens. Und dasselbe gilt für die Drogen. Das Glück ist Freiheit. Je weniger man hat, desto mehr kann man geben. Du fragst mich, was die Freiheit ist. Ich habe nichts, aber ich kann alles geben. Ich bin sehr glücklich und habe den Frieden. Die ehrgeizigen Leute wollen immer mehr haben und sind nie glücklich. Ich habe nichts und bin deshalb vollkommen frei.

Mäßigkeit im Essen und Trinken

Ein wichtiges Gebiet der Mäßigkeit bezieht sich auf das Essen und Trinken. Der hl. Thomas bezeichnet als Völlerei die ungeordnete Ess- und Trinklust. Der mäßige Mensch versucht, den Verzehr von Esswaren und Getränken seinem Verstand zu unterwerfen. Das heißt, dass er nicht zu jeder Zeit und einfach aus Lust und Laune isst und trinkt, sondern geregelt und insofern es für seinen Körper nötig ist. Er sucht nicht immer die besten und teuersten Gerichte oder Getränke aus und isst auch nicht zu viel und unnötig. Der Mensch neigt jedoch dazu, mehr als nötig zu essen. Die Sattheit, die oftmals Schwere und Unwohlsein verursacht, macht ihn unfähig, die übernatürlichen Güter zu kosten, und behindert sein Denken.

Wer sich freiwillig seiner intellektuellen Fähigkeiten entledigt, weil er zuviel Alkohol trinkt, entwürdigt sich selbst und handelt verantwortungslos, auch wenn seine Betrunkenheit niemandem schadet und keinen Skandal verursacht. In gleicher Weise widerspricht der Gebrauch von Drogen der Tugend des Maßes, auch wenn es sich um weiche Drogen handelt, die heutzutage in allen sozialen Schichten konsumiert werden.

Ein Christ darf nicht gleichgültig zuschauen, wenn Menschen in seiner Umgebung diesem Laster verfallen. Wenn irgendwie möglich, soll er ihnen mit Verständnis und Starkmut helfen, davon wegzukommen. Oft sind es schlechte „Freundschaften“, eigene Schwäche oder einfach Unwissenheit, die einen Jugendlichen in den Sog der Drogen reißen. Es gilt, diese Menschen einzeln aufzurütteln und ihnen ins Ohr zu flüstern, dass sie – wenn sie so weitermachen – ihren Willen verlieren und zu nichts mehr Positivem in dieser Welt fähig sein werden. Eine Befriedigung der Sinne vermag nie dauerhaft zu erfüllen, sie ist punktuell. Nur die Integration der Sinnlichkeit in die Ordnung der Vernunft vermag der Lust Dauer zu verleihen und den faustischen Wunsch „Augenblick, verweile doch, du bist so schön“ zu erfüllen. Damit erst kann Lust dazu beitragen, einem ganzen menschlichen Leben Befriedigung zu verleihen. Denn was wir alle als gut erachten sind nicht Augenblicke des Genießens, nicht ein Leben voller Genüsse, sondern ein genussreiches Leben. Der Unmäßige lebt also in einer beständigen Selbsttäuschung. Der Materialismus des bloßen Konsumierens endet in Resignation und Verzweiflung.

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Pia Bühler
Pia Theresia Bühler, 1959 in den USA geboren, erhielt in Zürich die Ausbildung zur Grundschullehrerin und studierte anschließend Heilpädagogik in Zürich und Journalistik in Freiburg. Neben ihrer Tätigkeit als Journalistin und Pädagogin hält sie Vorträge zur christlichen Glaubenslehre und Persönlichkeitsbildung. ----- zu den Texten über Tugenden: Die Textauszüge entstammen dem Buch Die Tugenden - Werte zum Leben von Pia Bühler. Es ist im Sankt Ulrich Verlag erschienen, mit dessen freundlicher Genehmigung wir sie übernommen haben. Das Copyright verbleibt beim Verlag.