Entschlossene Menschen sind zu allen Zeiten bewundert worden, denn die Fähigkeit, inmitten einer problematischen Welt Entscheidungen zu treffen, beweist eine beneidenswerte Lebensnähe, bedeutet fruchtbare Übereinstimmung mit dem Rhythmus der Welt. Jede Unentschlossenheit erweckt hingegen leicht den Eindruck lebensfeindlicher Entfremdung, Verengung des Herzens, Knebelung des gesamten Daseins, Verstümmelung aller Entfaltungsmöglichkeiten.

Entscheidung als schöpferischer Akt

Es geht dabei wesentlich nicht um eine psychologische Eigenschaft, denn jede Entscheidung ist ein schöpferischer Akt, und die Schöpfung an und für sich entzieht sich der Psychologie. Die Motivationen, welche eine Entscheidung hervorrufen, sind in unlösbarer Verflechtung miteinander verbunden: Vernunft, Erfahrung, Erlebnisse, Gefühle, Leidenschaften wirken dabei zusammen.

Die „Menschen der Vernunft“, mit verfeinerten intellektuellen Kräften ausgestattet, verstricken sich häufig in den Netzen des „Für und Wider“ und geraten in quälende Verlegenheit: Hamlet-Tragödie – zum Vorbild alles Philosophierens erhoben von verschiedensten Denkern, unter anderen von Karl Jaspers. Diese Menschen aber werden uns nie überzeugen können, denn sie beweisen – ganz ähnlich wie die Skrupulanten – nichts anderes als die Angst vor dem Leben schlechthin.

Angst vor dem Irrationalen

Menschen, die jede Entscheidung aufschieben, weil ihr Drang nach Sicherheit und Risikofreiheit zu stark und beklemmend ist, lassen Briefe lange Zeit ohne Antwort, kaufen notwendige, ja überaus dringende Waren selten oder zu spät, verpassen vorzügliche Geschäftsgelegenheiten, wagen keine Liebeserklärung … alles unter dem Vorwand, sie hätten darüber noch nicht genug nachgedacht. Ihre überspitzte Rationalität, gekoppelt mit einem ichhaften Genauigkeitsbedürfnis, weckt in ihnen eine panische Angst vor dem Irrationalen, vor jeder Ungesetzlichkeit, vor einem eventuellen Versagen.

Hier zeigt sich der sogenannte Geist als gegen das Leben eingestellt. Die brillante Vielheit der Reflexion darf uns nicht darüber hinwegtäuschen, dass diese Neunmalklugen an markanter seelischer Armut leiden, an einer geistigen Insuffizienz, an einer an „Entweder-Oder-Fragen“ magisch festgeklammerten Grundhaltung. Sie ersticken in ihrer labyrinthischen Verschlossenheit, die dem Lebenssinn weit entfernt bleibt, sie wagen es nicht, unter freiem Himmel zu wandeln, sich auf den breiten Straßen der Welt zu bewegen, und sie werden nie „ihrem Geist Muskeln schenken“ können (E. Mounier). Sie lehnen das vitale Gesetz der Leibwerdung ab.

Gute Erziehung fördert die schöpferischen Entscheidungen

Kinder, die zu weich oder zu hart erzogen wurden, leiden später unter allerlei Hemmungen: Jene ersten Wunden, die im Kern ihrer Vitalität weiterbluten, lassen sich nicht schließen – weder durch Überredung oder Rat, noch durch Bildung und Lebensphilosophien.

Solche Menschen müssen sich in die Aktion werfen, das Wagnis der konkreten Entscheidungen aufnehmen, das immer wieder auftretende Versagen mutig überwinden und zugleich die Geduld und seelische Biegsamkeit des immer wieder sich einsetzenden Versuches gewinnen. Eine gute Erziehung fördert die schöpferischen Entscheidungen genauso wie die Reflexion, die Freiheit wie die Verantwortung, die Leidenschaft und die Vernunft, gepaart und sich gegenseitig befruchtend.

Flucht vor der Entschiedenheit

Vor allem aber scheint die Entscheidungsfähigkeit eng mit dem Opfergeist verbunden, denn Auswählen fällt mit Verzicht zusammen. Jede Ent-scheidung ist Abscheidung. Wer „alles“ und „alles sofort“ haben will, steht gelähmt vor der Entscheidung oder explodiert wie der Caligula bei Camus in absurden Taten, die ihn in jene gottlose Welt des Iwan Karamasow hineintreiben, in der „alles erlaubt ist“ und in der man sich deshalb ratlos und ruhelos bewegt.

Wer sich für etwas entscheidet, verzichtet damit notwendigerweise auf die anderen, nicht eingeschlagenen Wege. Die Aktion ist grundsätzlich Opfer (M. Blondel). Aus diesem Grunde lehnt der schwärmerisch Gierige jede Entscheidung ab, mag er diese Haltung in der heutigen Zeit auch häufig mit dem Vorwand existentialistischen Engagements tarnen und sie mit der Romantik der „spontanen“, „grundlosen“, „raren“, „reinen“, „sinnlosen“ Handlungen umgeben.

Entfesselung des Irrationalen

Die surrealistischen Spiele von Salvador Dali, die Weltanschauung und Ästhetik André Gides, die Helden und Anti-Helden des Jean Paul Sartre finden eine Fortsetzung in der Entfesselung des Irrationalen bei den „Happenings“ der amerikanischen Fünfzigerjahre – die erst seit kurzem hierzulande bekannt sind und affenartig nachvollzogen werden – und bei den „Concerts“ des nunmehrigen New Yorker „Underground Theaters“, in denen Tanz, Musik und Film voneinander unabhängig, aber dennoch im Zusammenwirken nicht mehr spontan, sondern mit voller Absicht, die unumschränkte Freiheit des absurden Daseins darstellen möchten, denn – wie Elaine Summers, die Gründerin der „Bewegung“ erklärt hat – „das Leben als solches ist ein Happening“.

Die Anbetung der einsatzlosen „Offenheit“, der absoluten „Verfügbarkeit“, der in der Luft schwebenden „Mehrdeutigkeit“ der menschlichen Handlungen und Werke als Erfüllung ungebundener Vitalität hat die verschiedensten Früchte hervorgebracht: Vom Triumph des Informalen in den „offenen Kunstwerken“ bis zur jüngsten Blüte jugendlicher Anarchie und zum Mord als Racheakt eines verabsolutierten, gesetzlosen Individualismus. Sartres Orest, „von jedem dienenden und glaubenden Geist befreit, ohne Familie, ohne Heimat, ohne Religion und ohne Beruf, vor jedem Einsatz offen und fest davon überzeugt, dass man sich niemals engagieren soll“, schreitet unvermeidlich zum Verbrechen, zum antisozialen Götzendienst am eigenen Ich.

Unentschiedenheit bewirkt immer eine gewaltige Bedrohung des Gemeinschaftslebens, gleichgültig ob diese „schwebenden“ Menschen nun inmitten der Masse wirken oder von oben herab die Menschen lenken. Leitende Menschen, die Entscheidungen verschieben, die offene Fragen nicht lösen und bestenfalls stagnierende Kompromisse eingehen, tragen eine schwere Verantwortung, denn sie stiften eine Verwirrung, die nach allen Seiten um sich greift.

Flucht in die Entscheidung

Eine falsche Entschlossenheit zeigen hingegen die Impulsiven, die Miguel de Unamuno als „arrojadizos“, als „Sich-Hinwerfende“ bezeichnete. „Wie gedacht, so getan“ führt zur Grobheit, zur Approximation, zur Lieblosigkeit. Hier tritt Trunkenheit der Aktion ins Rampenlicht, die nicht selten sowohl eine Einengung des Bewusstseins aufzeigt als auch eine krankhafte Verkrampfung des Gefühlslebens, das nicht zu warten versteht und in die schnelle Entscheidung flüchtet. Die Taten springen ohne Ordnung hervor und zersplittern in der Unmittelbarkeit des Vorläufigen, oft des Nebensächlichen, im aggressiven Rausch des Drangs nach Erfolg und Anerkennung.

Diese „Flucht in die Entscheidung“ (O.F. Bollnow) möchte sich für „Charakterfestigkeit“ ausgeben, aber sie ist nichts weiter als Schwäche, höchst erregbare Empfindlichkeit, Ungeduld, Erwartungsangst, Suggestibilität; Eigenschaften vieler Revoluzzer – auch vieler Süchtiger und vieler Epileptiker -, die allerlei Diktaturen entstehen lassen, bei denen die mythologisierte Entschlossenheit des großen Chefs dem blinden Gehorsam der Mehrzahl entspricht.

Was soll ich tun?

Schüchterne, schwankende, zwangsneurotische, unsichere Persönlichkeiten sehnen sich nach Diktatoren, auch wenn bloß in der bescheidenen Gestalt von Beratern. „Was soll ich tun?“ ist die eintönige Frage, die sie immer wieder in der Hoffnung stellen, man werde ihnen ein Rezept überreichen, auf Grund dessen sich jede Entscheidung erübrigt.

„Was soll ich tun?“ heißt „Ich möchte mich nicht entscheiden“, „Ich will nichts riskieren“, „Die ‘Rezept-Tat’ wird meine Verantwortung aufheben“. Der richtige, gut gesinnte Berater lässt sich dann nicht vom Mitleid dazu verführen, „Taten“ oder „Handlungen“ zu „verschreiben“ – die große Versuchung des Psychotherapeuten; er hilft vielmehr dem Verlegenen, sein Problem zu erkennen und überlässt es ihm, die verantwortliche Entscheidung zu treffen. Hat er doch mit dem Psychiater Watts erfahren, dass „Was soll ich tun?“ nur Menschen fragen, die ihr Problem nicht verstehen.

Verfügbarkeit als Hingabebereitschaft

Dieses Problem deckt sich heute des öfteren mit der Freiheit, die als „Verfügbarkeit“ bzw. als Bindungslosigkeit missverstanden wird. Verfügbarkeit ist aber im menschlichen und christlichen Sinn Hingabebereitschaft, nicht Gemüts- und Gedankenleere: Es besteht ein unüberbrückbarer Gegensatz zwischen dem Begriff „disponibilité“ bei Gabriel Marcel und dem gleichnamigen Begriff bei J. P. Sartre.

In der echten Verfügbarkeit versöhnen sich Entscheidung mit Gelassenheit, Mut zur Tat mit Geduld, die imstande ist, das Beglückende und Befreiende in manchen Situationen nur als Geschenk zu erwarten, und die versucht, den Knoten langsam zu entwirren, statt ihn mit dem Schwertstreich des übereilten Entschlusses durchzuhauen. Wahre Verfügbarkeit überwindet die Selbstbefangenheit der Aktivisten und öffnet sich vor den berechtigten Ansprüchen der anderen: Damit wird man frei für den entschiedenen Einsatz in der Welt. „Unverfügbar sein heißt, mit sich selbst beschäftigt sein“ (G. Marcel).

Jede Hoffnung ist Hoffnung auf die Auferstehung

Solche zur Entscheidung immer bereite Verfügbarkeit besitzen aber allein diejenigen, die an einen letzten tragenden Grund der menschlichen Existenz glauben: Der Glaube ist die riskanteste Entscheidung, bei ihm geht es um Leben und Tod. Und da der, der die Glaubensentscheidung getroffen hat, in Hoffnung wandelt, darf man die Grundhaltung der Hoffnung als tiefstes Fundament der alltäglichen Entscheidungen betrachten.

Der bekannte Psychiater Medard Boss schrieb: „Jede Angst ist Angst vor dem Tod“ – den manche Theologen als Endentscheidung zu definieren pflegen. Und Gabriel Marcel drückt sich symmetrisch aus: „Jede Hoffnung ist Hoffnung auf die Auferstehung.“ Die Überwindung der lähmenden Angst durch die Hoffnung stellt die einzig gültige Förderung der Entscheidungs-fähigkeit dar – mitten in der Relativität und Zeitlichkeit unserer Existenz auf der Erde.

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Johannes B. Torelló
* 7. November 1920 in Barcelona; † 15. August 2011 in Wien - war ein aus Spanien stammender österreichischer Geistlicher und römisch-katholischer Theologe sowie weltbekannter Neurologe und Psychiater. - Zahlreiche Werke über Themen des Grenzgebietes Psychiatrie-Seelsorge-Spiritualität. Mehrmals übersetzt wurden zwei Bücher: „Psicanalisi e confessione“ und „Psicologia Abierta“ (auf Deutsch ursprünglich als Essays in der Wiener Monatsschrift „Analyse“ erschienen). Andere Titel von Vorträgen, Aufsätzen usw.: Medizin, Krankheit, Sünde; Zölibat und Persönlichkeit; Was ist Berufung? Die Welt erneuern (Laienspiritualität); Über die Persönlichkeit der ungeborenen Menschen; Erziehung und Tugend; Glauben am Krankenbett; Arzt-Sein: Soziale Rolle oder personaler Auftrag? Die innere Strukturschwäche des Vaters in der heutigen Familie; Echte und falsche Erscheinungen; Schuld und Schuldgefühle; Die Familie, Nährboden der Persönlichkeitsentwicklung; Neurose und Spiritualität; Über den Trost; Lebensqualität in der Medizin.