Dienstag, 30 April, 2024

Grundwerte der Erziehung

Inciarte, Torelló, Spieker

Nummer: S03

15,00 €


Zu eintönig ist in den letzten Jahren auf Kongressen und bei Vorträgen immer wieder eine neue Strophe des Liedes von der unerzogenen Jugend, ihrer Langeweile, ihrer Sinnentleerung und Gleichgültigkeit angestimmt worden, und zu eintönig wurden als Sündenböcke Gesellschaft, Schulsystem, Pädagogische Konzeption und Familienzerfall zitiert, als daß man sich an der Frage vorbeidrücken könnte, ob dies alles etwa ein unumstößliches, schreckliches Schicksal sei, das über Nacht alle in der Verantwortung der Erziehung Stehenden befallen habe.

An klugen und tiefschürfenden Analysen der kranken siebziger Jahre fehlt es ebensowenig wie an weit- und weniger weitreichenden Re-Formen, formalen Änderungen, Systemabwechslungen und Innovationen. Nie haben sich mehr Professoren und Fachleute, mehr Gremien und Ausschüsse mit Erziehungsfragen beschäftigt als im Zeitalter der Mondflüge und Computer; noch nie aber auch scheint eine Generation weniger auf das kommende Jahrzehnt, geschweige denn auf die Bewältigung der Aufgaben des kommenden Jahrhunderts vorbereitet gewesen zu sein. Alle sind sich dabei darin einig, daß die Schuld nicht allein bei den jungen Menschen selbst liegen kann.

Der ungeheuerlichen Wachstumsgläubigkeit, die ihre erste Erschütterung im Ölschock erfahren hat, der Überzeugung von restloser Machbarkeit und Erfüllbarkeit aller Wünsche, Sehnsüchte und Träume steht ein unübersehbares Sinn- und Glücksdefizit als Tatbestand gegenüber, das eher noch im Wachsen begriffen ist, ein Phänomen, mit dem sich Erwachsene vielleicht leichter abfinden und arrangieren können, gegen das Jugendliche jedoch zumeist rebellieren, indem sie fordernd Sinn einklagen und schließlich Ersatzlösungen suchen, wo ihnen wahrer Sinn vorenthalten wurde: Flucht in Rausch- und Traumwelten, in denen das Bestehen des Abenteuers Leben nicht gelehrt und vorgelebt wird, Abwanderung in Ersatzreligionen, weil ihnen der christliche Glaube nicht glaub-würdig nahe gebracht wird, voller Einsatz für unwerte Ziele, die echte Werte wie Wahrheit, Gerechtigkeit und Nächstenliebe nicht lohnend erfahrbar machen und viele andere Irrwege, die fast immer in Ernüchterung, Lethargie und Gleichgültigkeit enden, sind die unausbleiblichen Folgen.

Nicht um ein neues pädagogisches System, nicht um eine andere formale und techniche Lösung zu suchen, hat die Fördergemeinschaft für Schulen in freier Trägerschaft Eltern und Lehrer im Frühjahr 1979 in ihr Jülicher Mädchengymnasium eingeladen zu einer Vortragsreihe unter dem Titel „Grundwerte der Erziehung“, aus der der vorliegende Sammelband hervorgegangen ist, sondern um den Versuch zu machen, Antworten auf jene drängenden Fragen zu geben, die nicht Rezepte sein wollen oder gar können, aber doch Anstöße zum Nachdenken, zum Besinnen und zum Handeln: Anstöße für Eltern, ihre Erziehungsverantwortung gegenüber ihren Kindern nicht an andere Instanzen abzutreten, sondern sie so wahrzunehmen, daß in ihren Kindern all das an Werten, an Überzeugungen, Haltungen und Tugenden weiterlebt, was diese an ihren Eltern gesehen, geschätzt und überzeugend erfahren haben; Anstöße für Lehrer, den Mut zu haben, Farbe zu bekennen, die eigene Einstellung deutlich werden zu lassen, sich nicht hinter Wertneutralität und Relativismus zu verstecken, sondern selbst so sehr nach der Wahrheit zu streben und von der Wahrheit überzeugt zu sein, daß man es wagt, sie Kindern zu sagen wie Torelló es in seinem Beitrag ausdrückt. Anstöße geben zu können, setzt eine Rückbesinnung voraus auf die eigenen Wertvorstellungen, auf das, was andere ermutigen und ihnen als Standort dienen kann, und es setzt persönliche Entscheidungen voraus, die ein Bekenntnis zu unverzichtbaren Werten erst glaubwürdig machen. Ohne Werte kann sich keine Person zur Persönlichkeit entwickeln, ohne die christlichen Werte kein Mensch zum Christen, der seinen Glauben ernsthaft zu verwirklichen sucht.

Die Aufgabe der Eltern und des christlichen Erziehers erschöpft sich nicht in der Vermittlung kultureller oder ethischer Grundwerte. Beide müssen vielmehr die Transzendenz der menschlichen Person aufweisen, die in Gott ihr letztes Ziel und ihre höchste Würde als menschliche Person dadurch hat, daß Gott in Jesus Christus selbst Mensch geworden ist, um jeden einzelnen durch die Erlösung zur Freiheit der Kinder Gottes zu führen.

Nur so wird der junge Mensch über den Wert und die Würde des Menschen wieder staunen können, nur so auch dementsprechend handeln lernen, da er nur auf diesem Wege zur vollen Sinndeutung des menschlichen Lebens geführt wird. Achtung vor der Würde des Menschen wird so wieder zu einem Wert, für den es sich zu leben und einzutreten lohnt, und derjunge Mensch wird wieder verstehen, daß sich die letzten und tiefsten Werte aus der göttlichen Offenbarung ableiten.

Welche Werte im einzelnen in der Erziehung eine besondere Rolle spielen, wollen die vorliegenden Beiträge u. a. zeigen:
Der Einleitungsvortrag von F. Inciarte fordert in einem historischen Rückblick den Leser auf, in einer „Emanzipation der Vernunft“ deren volle Möglichkeiten zu nutzen, die in den Dingen liegende Wahrheit aufzudecken und nicht vorschnell Glaubenslosungen in Bereichen zu bemühen, denen eine vernunftgemäße Erarbeitung angemessen ist, andererseits jedoch nicht Vernunftlösungen dort zu suchen, wo nur der Glaube eine Antwort geben kann. Mit der aufreizenden Folgerung, als Christ zu vernunftgemäßem Denken verpflichtet zu sein, in sachangemessener Arbeit dem Glauben am meisten dienen zu können, eröffnet er für eine Erziehung aus christlicher Verantwortung wichtige Wege.

Im zweiten Vortrag werden Werte und Ziele christlicher Erziehung mit all ihren Ansprüchen beim Namen genannt. Bestimmt, mutig und aufmunternd ergreift J. B. Torelló das Wort, wo heute oft geschwiegen wird, rückt er in den Blick, was häufig als „blinder Fleck“ der Erziehung gilt: Aus dem festen Glauben heraus, daß der Mensch nach Gottes Ebenbild und auf ihn hin geschaffen ist, erschließt er jungen Menschen den Weg der Tugenden neu, der dann gangbar ist, wenn er in der Liebe wurzelt und nicht Halt davor macht, sich zu verschenken.

Ausführlich beschäftigt sich der letzte Beitrag mit der in den letzten Jahren intensiv geführten Grundwertediskussion, wobei M. Spiekernicht nur alle wesentlichen Elemente zusammenträgt und kritisch prüft, sondern auch klar aufzeigt, welche unverzichtbaren und unaufgebbaren Werte sich aus einem christlichen Menschenbild ergeben. Ohne Beachtung der hier aufgeführten und begründeten Grundwerte ist weder eine auf unserer freiheitlichen Grundordnung beruhende noch eine christliche Erziehung zu leisten.

Fernando Inciarte; geb. 1929. Promotion 1952 in Rom und 1956 in Köln in Philosophie. Habilitation an der philosophischen Fakultät Freiburg i. Br. Seit 1963 Lehrbeauftragter an deutschen und ausländischen Universitäten. 1974 Dekan der Philosophischen Fakultät in Freiburg. Seit 1975 Ordinarius für Philosophie in Münster. Wichtige Arbeiten zu Grundproblemen der Philosophie. Buchveröffentlichungen: „Transzendentale Einbildungskraft“, „Forma Formarum“, „Eindeutigkeit und Variation“ u. a.
Johannes B. Torelló; geb. 1920. Promotion in psychiatrischer Medizin, danach Theologie. 1948 Priesterweihe. 14 Jahre Seelsorger und Dozent in Italien. Heute österreichischer Staatsbürger und Rektor der Peterskirche in Wien. Zahlreiche Buch- und Aufsatzveröffentlichungen zu psychiatrischen und theologischen Themen, darunter „Psychoanalyse und Beichte“.
Manfred Spieker; geb. 1943. Studium der Politikwissenschaften in Freiburg und Berlin. Promotion 1971 in München. 1971/72 Sekretär der Sachkommission VI (Erziehung-Bildung-Information) der gemeinsamen Synode der Bistümer in der Bundesrepublik. Gegenwärtig wissenschaftlicher Assistent am Forschungsinstitut für Politische Wissenschaft der Universität Köln. Buchveröffentlichungen: „Neomarxismus und Christentum“, „Grundwerte in der Bundesrepublik“, „Der Eurokommunismus – Demokratie oder Diktatur?“ u. a.