Samstag, 27 April, 2024

Erziehung und Freiheit

Lakebrink, Pieper, Ossenbühl, Geißler

Nummer: S02

15:00 €


Erziehung und Freiheit schließen sich im aufklärerischen Denken aus. Auch heute findet der geistige Wegbereiter der Revolution von 1789 – Rousseau eine neue Gefolgschaft: Kinder sollen fern von Erziehern und Einflüssen nur ihrer eigenen Natur gemäß sich selbst verwirklichen und entwickeln. Kommt uns auch der Wunsch nach dem „verlorenen Paradies“ meist naiv vor, so bleibt er doch verlokkend, und wir sind dem fragwürdigen, aber nichtsdestoweniger verführerischen Ideal gefährlich nahe, je mehr sich „kritisches Bewußtsein“, „Wertneutralität“, „reine Wissensvermittlung“ als Ziele der Erziehung durchsetzen. Werden Kinder dieser geistigen „Kaspar-Hauser-Umgebung“ ausgesetzt, dann müssen sie auf eigene Faust in „freier Wildbahn“ Standortfindung betreiben. Noch einmal scheint der Geist Friedrichs des Großen aufzuleben: jeder soll nach seiner Façon selig werden. Sein ganzes Leben in dieser Haltung bestreiten zu müssen: das gäbe dann schon dem französischen Existentialismus recht: der Mensch, zur Freiheit verdammt.

Überzeugungen und Standpunkte sind unbequem, können abgelehnt, ja bekämpft werden. Sie fordern und formen Persönlichkeit Überzeugungen und Standpunkte gedeihen aber nur in einem Klima der Freiheit, jenem Gut, das die Demokratie zu ihren wesentlichen Errungenschaften zählt, ein Gut, das nicht nur dort gefährdet ist, wo es unterdrückt wird, vielleicht noch mehr dort, wo es pervertiert ist: wo Freiheit zur Freiheitlichkeit wo Toleranz zur Standpunktlosigkeit degradiert ist. Ein so unterhöhltes Fundament kann keine Überzeugungen mehr tragen, nur noch Gleichgültigkeit – und das ist eine andere Form der Unmenschlichkeit Einer Erziehung, die keine mehr ist, die den Mut zur Richtung verloren hat, ist ebenso entgegenzutreten wie einer Freiheit, die als „Libertinage“ zur Frechheit und Zügellosigkeit führt.

Verunsicherte Eltern erziehen ihre Kinder zur Unsicherheit und machen sie anfällig für jede Ideologie, auch für die der Wertneutralität. Ein „Johann Ohneland“ als Lehrer erzieht zur Gleichgültigkeit: Alles scheint gleich gut und gleich schlecht, gleich gültig und gleich ungültig. Die in der Kreatürlichkeit des Menschen gründende Gleichheit muß einem Gleichsein weichen, das der Gleichgültigkeit Raum schafft.

Bei dem Erzieher, der sich als Christ nicht vor irgendeiner Gesellschaft, sondern vor Gott verantwortlich weiß, wird sich die „Achtung vor der Person und ihrer Freiheit“ in seinem aus der Liebe entspringenden Handeln und Erziehen erweisen müssen. Er wird sich nicht selten mit Bekennermut modischen Zeitströmungen widersetzen und nicht nur „Mut zur Erziehung“, sondern sogar Mut zur richtigen Erziehung aufbringen müssen. Aus der Überzeugung, daß er den Einzelnen zu jener Freiheit führen soll, die er in der Hinordnung all seiner Möglichkeiten auf sein letztes Ziel erfährt, also in der Verwirklichung seiner selbst, wird er ihn zum rechten Verständnis von Liebe, die Freiheit und Verantwortung in Balance hält, führen wollen.

Die Landesverfassungen gehen in ihrem Anspruch an den Erzieher so weit, Erziehung zur „Ehrfurcht vor Gott“ allen als verpflichtende Aufgabe zu setzen. „Maß-gebend“ für Zielsetzung und Richtung so verstandener Erziehung ist demnach die Verantwortung vor Gott. Das Wechselverhältnis von Freiheit und Verantwortung hat hier seinen Grund. Und nur zu deutlich werden zugleich Größe und Gefahr, die im Erziehungsauftrag liegen.

Entscheidend und grundlegend für die Wahrnehmung dieses Auftrags ist das Verständnis von Freiheit; dies alleine rechtfertigt schon eine Vortragssammlung, die nach dem Verhältnis von Freiheit und Erziehung fragt – und nicht nur fragt, sondern auch Antworten gibt, von klar erkennbaren Standpunkten ausgehend.

Herausgeber dieses Sammelbandes ist die Fördergemeinschaft für Schulen in freier Trägerschaft, ein Träger von privaten, von freien Schulen, was eine innere Beziehung zum Thema herstellt, da die freie Schule Ausdruck und Realisierung von Freiheit ist.
Entstanden ist dieser zweite Band pädagogischer Aufsätze aus einer Vortragsreihe, die unter dem Titel „Erziehung und Freiheit“ im Winterhalbjahr 1977/78 an dem vom Herausgeber getragenen Mädchengymnasium Jülich stattfand.

In seinen Einleitungsworten zum Vortragszyklus sagte Aachens Oberbürgermeister Kurt Malangré als Vorsitzender dieses Trägervereins: „Erziehung setzt Werturteile voraus, denn sittliche Freiheit ohne absolute Werte gibt es nicht. Nur so wird es möglich sein, Bildung nicht als ein Mittel zur Macht, sondern als Verpflichtung zum Dienen zu verstehen. Verliert Erziehung diese Rückbindung, dann verliert sie den Anspruch auf den Namen, den sie trägt, denn sie wäre nur noch in der Lage, geistige Fertigware zu produzieren. Darum sollte es auch möglich sein, eine Erziehung unter ausdrücklicher Berufung auf das Evangelium und auf die Mitte, nämlich Jesus Christus, in unserer Gesellschaft zu vertreten.“

Nicht in der Freiheit v o n, sondern in der Freiheit z u, in der Bindung an Sinn, findet die Freiheit ihre einzig wirkliche Entfaltung. Das zu verdeutlichen, entführt Lakebrink in dem Eingangsessay den Leser auf dem Weg über ein spannend geschriebenes philosophisches Abenteuer in die klassische Metaphysik. In Ausübung der vier kardinalen Tugenden erwirbt der Mensch die Fähigkeit, frei werden zu können von dem, was seiner Freiheit Zwang antun könnte. Würde der Mensch seine Geschöpflichkeit verkennen, so müßte er sein Glück in sich selbst suchen und dabei in in Irre gehen.

Piepers Aufsatz setzt an dieser Nahtstelle an: Wenn Freiheit verstanden wird als positive Entscheidung zu sinnerfüllten Bindungen, dann bedeutet Glauben die Realisierung der in diesem freien Akt sichtbar werdenden Bindung des Geschöpfes an seinen Schöpfer: eine willentliche und freie Bejahung der göttlichen Offenbarung durch den Menschen.

Der vom juristischen Ansatz ausgehende Beitrag von Ossenbühlverdeutlicht, daß nicht nur auf metaphysischer und ethischer Ebene das Spannungsverhältnis von Erziehungsverantwortung und Freiheit seinen Niederschlag findet, sondern auch praktisch in allen Fragen des Elternrechts in Familie und Schule. Es wird den Eltern nahegelegt, in noch stärkerem Maße von dem ihnen „zuvörderst“ zustehenden Erziehungsrecht, das eine Pflicht ist, Gebrauch zu machen.

Im letzten Vortrag kommt der pädagogische Aspekt vor allem darin zum Ausdruck, daß der Weg, auf dem der junge Mensch zum rechten Gebrauch seiner Freiheit gelangen und zur Selbstständigkeit geführt werden kann, von Geißlernachgezeichnet wird. Auch hier münden Freiheit und Verantwortung der Erzieher sowie Freiheit und Verantwortung, zu denen erzogen werden soll, wieder in ihrem eigentlichen Ziel: in der Verantwortung, die der einzelne vor Gott und keiner anderen Instanz zu rechtfertigen hat.

Bernhard Lakebrink; geb. 1904. Studierte Jura, Philologie und Philosophie. Vor seiner Habilitation 1954 in Köln Lehrtätigkeit im Rheinland; von 1961 bis 1976 Ordinarius für Philosophie in Freiburg. Schwerpunkte seiner Arbeit über Thomas von Aquin und Hegel, u. a.: „Hegels dialektische Ontologie und die thomistische Analektik“, „Klassische Metaphysik“.
Josef Pieper; geb. 1904. In Berlin und Münster Studium der Philosophie, Rechtswissenschaft und Soziologie. Nach freier schriftstellerischer Tätigkeit ab 1946 Lehrstuhlinhaber in Essen und Münster. Zahlreiche Auszeichnungen und Veröffentlichungen mit einer Gesamtauflage von mehr als einer Million.
Fritz Ossenbühl; geb. 1934. Studium der Jurisprudenz in Köln; Habilitation dort im Jahre 1968 in Staats- und Verwaltungsrecht. Seit 1970 o. Professor für öffentliches Recht in Bonn. Veröffentlichungen zum Grundgesetz, zu Erziehung und Bildung u. a.
Erich E. Geißler; geb. 1928. Studierte am Pädagogischen Institut Darmstadt. Lehrtätigkeit nacheinander in Frankfurt, Landau, Berlin; seit 1970 Professor für Erziehungswissenschaften in Bonn. Sein Standardwerk „Erziehungsmittel“ erschien bereits in mehreren Auflagen.