In dieser Folge beschäftigt sich Johannes B. Torelló mit der Enthaltsamkeit, einer Haltung, die von vielen als unsinnig oder als unerfüllbar angesehen wird. Irgendwie wird sie mit einer Degradierung oder Tabuisierung der Sexualität in Verbindung gebracht. Sexualität kann aber nur dann harmonisch in die Persönlichkeit integriert werden, wenn Enthaltsamkeit gelingt.

Enthaltsamkeit – eine Herausforderung

Tatsächlich: Gegen den Mythos des isolierten sexuellen Glücks soll heute dringend der höchst menschliche Wert der Enthaltsamkeit, der Selbstentsagung auch im Bereich der ehelichen Liebe hervorgehoben werden! Dass meine Worte vielleicht Skandal erregen werden, ist unvermeidlich.

Die eheliche Liebe erfordert Einheit, auch Einheit des erlebten Leibes beider Liebenden, die aber doch mit der Zeit erkennen müssen, dass die ersehnte Einheit nicht vollziehbar ist und darum die realistische Vereinigung zweier geistiger Personen viel mehr in einem gemeinsamen „Hungern“ als in einem unmöglichen „Sich-aneinander-Sättigen“ besteht. 

Daher spielt in jeder wirklich menschlichen Ehe neben der geschlechtlichen Vereinigung die Enthaltsamkeit eine sehr bedeutende Rolle. Die Enthaltsamkeit bildet einen Weg zur geistigen Einheit der Partner, die sich nicht mehr täuschen wollen, weil sie – durch Erfahrungen und verschiedenste Erlebnisse – erkannt haben, dass zwei Menschen auch in der Ekstase des Selbstopfers das möglichst entmythologisierte Einswerden, die Wir-heit erreichen. Geschlechtliche Vereinigung und Enthaltsamkeit – beide tun die menschliche Beschränktheit kund, aber die Enthaltsamkeit erkennt sie und nimmt sie im Voraus an, während der Geschlechtsverkehr sie als enttäuschende Faktizität bei einer immer nur äußerst flüchtigen Vereinigung konstatieren muss.

Enthaltsamkeit und Ehefähigkeit

Sexuelle Betätigung ist keine absolute Notwendigkeit, Sexus ist Luxus; auch im Tierreich, wie es Portmann und andere Biologen bewiesen haben. Der frei gewählte Zölibat verursacht an und für sich keine leib-seelischen Störungen oder Einengungen des Daseins: Er kann so gut wie die Ehe zur affektiven Reife und vollen Integration der Persönlichkeit führen. Wer zur restlos-endgültigen oder zur zeitlichen Enthaltsamkeit nicht fähig ist, ist auch nicht fähig für die Ehe. Ihn wird keine sexuelle Aktivität retten, sondern allein eine radikale Metanoia, eine Umwandlung der ganzen Persönlichkeit.

Enthaltsamkeit und Respekt

Darüber hinaus ist die Enthaltsamkeit in gewissen Situationen ein Gebot der ehelichen Liebe, zumal wenn die personale Würde des Partners, seine eigentümlich geistige und leibliche Entwicklung respektiert sein wollen. Wer die Enthaltsamkeit gänzlich ausrotten will, beweist nicht seine Liebesfähigkeit, sondern bloß die eigene selbstsüchtige Unbeherrschtheit. Wer dagegen den Vorrang des Geistes in allen menschlichen Bereichen bejahen und sachlich festigen will, der wird zu einem „Künstler“ der ehelichen Beziehungen. 

Er wird weder der naiv angepriesenen Technik noch der krassen Berechnung eines Wechselspieles von sexueller Betätigung und sexueller Enthaltsamkeit verfallen. Er wird eine menschliche Übereinstimmung mit dem Partner finden, bei der Verkehr und Verzicht ganz natürlich, ohne irgendeinen überasketischen oder ausschweifenden Zug ihren Beitrag zum existentiellen Wir bringen können.

Enthaltsamkeit und Lust

Lust ist immer Geschenk, Geschenk, das aus einem anderen kommt, fast unerwartet und nicht direkt angestrebt. Lust eines Paares, wirklich miterlebte menschliche Lust kommt aus etwas anderem, das außerhalb der beiden steht und viel mehr als gegenseitige Fresserei ist. Das gemeinte andere lässt das unentbehrliche Sich-Vergessen und Sich-Hinauswerfen der wahren Ekstase entstehen, welche das auf Erden immer nur bedingte Einswerden ermöglicht. Die erstaunte gemeinsame Betrachtung eines Kunstwerkes, das wie verzauberte Anschauen einer von beiden Partnern geliebten Landschaft, die atemberaubende gemeinsame Wache um eine Wiege, das Sich-Gott-zusammen-Anvertrauen, das ist es, was beide am besten verbindet. Die Zweisamkeit wird nun zu einem Dritten verwandelt – beide sind in ihm. Das Dritte, das am natürlichsten eine sich bis zum äußersten schenkende Hingabe zu zweit hervorruft, ist das Kind.

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Johannes B. Torelló
* 7. November 1920 in Barcelona; † 15. August 2011 in Wien - war ein aus Spanien stammender österreichischer Geistlicher und römisch-katholischer Theologe sowie weltbekannter Neurologe und Psychiater. - Zahlreiche Werke über Themen des Grenzgebietes Psychiatrie-Seelsorge-Spiritualität. Mehrmals übersetzt wurden zwei Bücher: „Psicanalisi e confessione“ und „Psicologia Abierta“ (auf Deutsch ursprünglich als Essays in der Wiener Monatsschrift „Analyse“ erschienen). Andere Titel von Vorträgen, Aufsätzen usw.: Medizin, Krankheit, Sünde; Zölibat und Persönlichkeit; Was ist Berufung? Die Welt erneuern (Laienspiritualität); Über die Persönlichkeit der ungeborenen Menschen; Erziehung und Tugend; Glauben am Krankenbett; Arzt-Sein: Soziale Rolle oder personaler Auftrag? Die innere Strukturschwäche des Vaters in der heutigen Familie; Echte und falsche Erscheinungen; Schuld und Schuldgefühle; Die Familie, Nährboden der Persönlichkeitsentwicklung; Neurose und Spiritualität; Über den Trost; Lebensqualität in der Medizin.