Sind die Helden tatsächlich müde? Ist der Enthusiasmus in unserer Welt tatsächlich ausgestorben? Man sagt des öfteren, der Mensch des technischen Zeitalters sei gegen jede Art von Begeisterung geradezu gepanzert. Er liebt die durch die kantsche Affektlosigkeit gewonnene Objektivität. Die modernste Wissenschaftsphilosophie, Husserls phänomenologische Forschung, hat dagegen seit langem die Naivität erkannt, auf solche Weise der Welt zu begegnen.

Die Abkehr von den „großen Tugenden“

Die distanzierende Affektlosigkeit allein macht uns nicht sachlich. Sehen kann allein das liebevolle, engagierte Schauen, oder die Sympathie, um mit Max Scheler zu sprechen. Großherzigkeit ist nötig, um die Realität des Lebens zu erfassen und eine entsprechende Lebenserfüllung zu erreichen.

Ist es vielleicht unsere unmittelbare, mit großen Parolen überhäufte und mit geschwollenen Gebärden überfüllte Vergangenheit, die in uns Klugheit, Kälte und Vorsicht entstehen ließ, gewissermaßen als Gegenreaktion oder sogar als Ausdruck unseres Willens zur Wiedergutmachung?

Gegen die „großen Tugenden“ wurden wir alle von Kindheit an oft genug geimpft. Wir alle – im Osten und im Westen – streben nach einer neuen Welt, nach dem glatten Reich der „bürgerlichen“ und „wirtschaftlichen“ Tugenden, das dem einzelnen und der ganzen Gesellschaft „karierte Seelen“ und Sicherheit schenkt. Keine Großmut, noch viel weniger Großzügigkeit und Großartigkeit. Und vor allem: Nur kein Risiko …

„Kein Experiment!“ wurde zum Motto der europäischen konservativen Parteien vor politischen Wahlen. Aber hinter dieser „Mäßigkeit und Klugheit“ versteckt sich die Angst, die eine bloß naturwissenschaftliche Weltanschauung – nicht allein die Atombombe – dem „realistischen“ Menschen von heute beschert.

Sparsamkeit als Frucht und Quelle von Angst und Geldgier

Die geläufige Sucht nach „Planung“, „verantwortlicher Elternschaft“, „allgemeiner Lebenssicherheit und Versicherung“ hat eine dunkle Seite, die nur allzu oft unbeachtet bleibt: Die Angst wächst, und der Mut zum Leben versinkt.

Wir betrachten die Welt nicht mehr entzückt und liebevoll, sondern nur noch gierig, mit dem Hintergedanken der Nützlichkeit. Die Ekstase, das Aus-sich-Herausgehen ist durch die Besitzgier ersetzt, die Liebe zum Ding durch die Liebe zum Geld, der riskante Einsatz durch Versicherung, die verschwenderische Selbsthingabe der Liebe durch eine absolut gesetzte Sparsamkeit.

Wie viele Spitzfindigkeiten und subtile theologische Gedanken haben allein die Christen aufgewendet, um die klare Haltung Christi dem Geld gegenüber zu verschleiern!

Freilich ist es wieder in Mode gekommen, die „Kirche der Armen“ zu preisen, und vom christlichen Narrsinn eines Franz von Assisi sind wir alle zu Tränen gerührt: Frömmigkeitsschmalz!

Den Wucher aber hat man geheiligt, Beine und Stimmen versichert, die Vögel des Himmels und die Lilien des Feldes ins Naturkundemuseum unter andere Fossilien gesperrt.

Noch schärfer klagte Bernhardin von Siena seine kaufmännischen Mitbürger an: „Da gibt es Christen, die Christus selbst ausweiden würden, um sich Lautensaiten zu verschaffen!“
Die Geldgier wird mit dem vornehmen Mäntelchen der Sparsamkeit bedeckt.

Wie man Götzen etabliert

Wir tragen doch so viel Sorge um das Geld, dass unsere Kinder die kleine Tugend der Sparsamkeit als allererste lernen. Nathalie Ginzburg beschrieb mit zarter Hand das Unglück der Sparbüchse, die viele Eltern so gerne ins Kinderzimmer stellen: Die Kinder gewöhnen sich an ihre Gegenwart, bekommen Unterricht in der Lust, Tag für Tag Münzen ins Sparschwein einzuwerfen. Sie gewöhnen sich an das im Bauch des Sparschweins versteckte Geld, das im Verborgenen und Dunkel wie ein Same unter der Erde wächst, und sie gewöhnen sich daran, dem Geld mit vorerst noch unschuldiger Liebe zu begegnen…

Später wird die Büchse aufgebrochen, die Kinder kaufen, was sie lang ersehnt hatten, und sehr oft werden sie enttäuscht und fühlen sich einsam, weil es kein Geld mehr im Bauch des Schweines gibt. Stattdessen steht nun das langersehnte Ding, das vielleicht monatelang im Schaufenster betrachtete Spielzeug, an seiner Stelle. Aber seltsam – zu Hause hat es viel von seinem Glanz verloren.

Ein Kind wird kaum das Geld beschuldigen, eher das heißersehnte, nunmehr glanzlos gewordene Ding. Das verlorene Geld bewahrt in der Erinnerung noch alle seine schmeichelhaften Versprechungen. Das Geld hat über das Ding gesiegt.

Wir sollten den Kindern eher beibringen, das Geld zu spenden als es zu sparen. Wir sollten ihnen Kleingeld schenken, das so bald wie möglich auszugeben ist: Sie werden einige Kleinigkeiten kaufen, die zusammen mit dem Geld bald vergessen sein werden. Noch mehr: Sie werden vielleicht lernen, das Geld als etwas Dummes und von geringem Wert zu betrachten.

Versichern betrügt

Trotz des Pathos der erwähnten Schriftstellerin ist in der Tat das Geld eher zu verachten als anzubeten. Wie Bernanos sagt, hat Christus auf Geldsäcke deutlich das Wort „Lebensgefahr“ geschrieben. Die kleinherzige Sparsamkeit des Mannes, der Ernte und Besitz untergebracht hatte und zu seiner Seele sagte: „Meine Seele, jetzt hast du große Vorräte an Gütern für viele Jahre; nun setze dich zur Ruhe, iss und trink und lass dir’s wohl sein!“ wird durch das Wort Gottes selbst verspottet: „Du Tor, noch in dieser Nacht wird man dein Leben von dir zurückfordern“ (Lk 12,16-20).

Geld zu sparen als ausschließliches und alleiniges Glücksziel ist tatsächlich bloße Torheit. Auch wenn es Brot für alle geben wird: „Der Mensch lebt nicht vom Brot allein.“

Der seit langem in den USA tätige Österreicher René Spitz hat bei Kindern, die zwar in materiellem Überfluss leben, aber unter Affektlosigkeit leiden, verschiedene organische und funktionelle Störungen nachgewiesen. Wohlstand für alle ist gewiss mit allen Kräften, schon allein um der Gerechtigkeit willen, anzustreben, aber Wohlstand, der von keiner Größe des Geistes belebt wird, ist sinnlos und leer. Die Neurosen und Selbstmorde in den sogenannten „überentwickelten Ländern“ bereiten schließlich den Psychiatern und Soziologen genug Kummer.

Sicher, es gibt auch eine andere Sparsamkeit. Echte Sparsamkeit ist die Tugend des Haushaltens, der Ökonomie im weitesten Sinn, die oft als das wirtschaftliche Prinzip schlechthin bezeichnet worden ist.
Trotzdem ist es wichtig, den echten menschlichen Sinn der Sparsamkeit von einer formellen Bedeutung eines wirtschaftlichen Prinzips zu unterscheiden. Denn wo es nur um das optimale Verhältnis von Aufwand und Ertrag geht, regiert die Unmenschlichkeit. Echte Sparsamkeit wird niemals zum Selbstzweck, sondern steht im Dienst einer sinnvollen Lebenserfüllung.

Deshalb ist es durchaus vernünftig, unter Umständen etwas aus der sicheren Gegenwart für die unsichere Zukunft herauszunehmen und aufzubewahren. Aber die Sparsamkeit darf dem Augenblick nicht so viel entziehen, dass dadurch die menschliche Erfüllung des Augenblicks unmöglich gemacht wird (Otto Friedrich Bollnow).

Konservativer als der Mann, zeigt die Frau, die dem Fortschritt skeptischer gegenübersteht, nicht selten die engstirnigsten Erscheinungen des sparsamen Geistes. Vorsorge, Sparsamkeit, Hygiene, Komfort können gehäuft zu Lastern werden, die das Leben vergiften, betäuben, lähmen und neurotisieren. Ersparnisse, die auf Kosten der Jugend des Herzens, der menschlichen Anpassungsfähigkeit, der Bewegtheit des Lebens und der Seele gehäuft werden, sind keine Tugend, sondern Ballast, der die Erfüllung des Ich verhindert.

Fruchtbare Sparsamkeit

Die gerühmte Gemütlichkeit, getrennt von der großzügigen Herzenswärme, entpuppt sich als grobe Tarnung der Faulheit, der Unordnung, des Schmutzes, des Geizes und der Unanständigkeit. Nur die Freigebigkeit, die Großzügigkeit und die wahre Großartigkeit können die echte Gemütlichkeit und sogar die Sparsamkeit fruchtbar machen.

Christus hat die „großen Sünden“ unverzüglich vergeben: Die Torheit des verlorenen Sohnes und des verirrten Schafes, die Leidenschaft der Ehebrecherin und den Kuss des Verräters.

Er wurde aber hart und peitschend vor der prahlerischen Sicherheit der Reichen, vor der fetten Ruhe der Versicherten, vor der mathematischen Genauigkeit der Gesetzeslehrer und der Raffgier der Tempelhändler … Die alte Sittenlehre setzte eine goldene Mitte zwischen Geiz und Verschwendung. Allein, diese liegt nicht in der Sparsamkeit, sondern in der Freigebigkeit. Und wie bei allen anderen Tugenden ist jene Mitte nicht genau gleich weit von zwei lasterhaften Enden entfernt, sondern sie befindet sich immer näher beim einen als beim anderen Gegensatz.

Der Mut steht näher beim leichtsinnigen Wagnis als bei der Angst.

Im Bereich des Geldes und des Besitzes liegt die Tugend näher bei der Verschwendung als beim Geiz.
Die kleinkarierten Menschen nehmen Anstoß am Aufstand der Jugend. Es lebe solche Rebellion – trotz übertriebener Polemik, trotz Gewalt und Fanatismus. Die Zeit wird diesen Übertreibungen die Schärfen und Kanten nehmen, die Richtung ist oft gerechtfertigt: Lebensschwung, vor allem aber Bewegtheit, Lebhaftigkeit der überall verdrängten Liebe und des Wagnisses, in dem allein jedes Leben und Wissen, jedes Herz sich zu entfalten und zu erfüllen vermögen.

Welche Verschwendung von Blütenstaub zerstreut die Natur im Winde des Frühlings, um eine einzige Blume zu befruchten! Leben und Liebe sind von Natur aus verschwenderisch und großzügig – oder aber sie sind überhaupt nichts.

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Johannes B. Torelló
* 7. November 1920 in Barcelona; † 15. August 2011 in Wien - war ein aus Spanien stammender österreichischer Geistlicher und römisch-katholischer Theologe sowie weltbekannter Neurologe und Psychiater. - Zahlreiche Werke über Themen des Grenzgebietes Psychiatrie-Seelsorge-Spiritualität. Mehrmals übersetzt wurden zwei Bücher: „Psicanalisi e confessione“ und „Psicologia Abierta“ (auf Deutsch ursprünglich als Essays in der Wiener Monatsschrift „Analyse“ erschienen). Andere Titel von Vorträgen, Aufsätzen usw.: Medizin, Krankheit, Sünde; Zölibat und Persönlichkeit; Was ist Berufung? Die Welt erneuern (Laienspiritualität); Über die Persönlichkeit der ungeborenen Menschen; Erziehung und Tugend; Glauben am Krankenbett; Arzt-Sein: Soziale Rolle oder personaler Auftrag? Die innere Strukturschwäche des Vaters in der heutigen Familie; Echte und falsche Erscheinungen; Schuld und Schuldgefühle; Die Familie, Nährboden der Persönlichkeitsentwicklung; Neurose und Spiritualität; Über den Trost; Lebensqualität in der Medizin.