Teil 1: Zwischen Caritas und Kapitalismus
Auf der Seite der Armen
Das erste offizielle Lehrschreiben von Papst Leo XIV.[1] behandelt ein zentrales Thema der Christenheit: gelebte Nächstenliebe und Zuwendung zu den Armen. Dabei geht es nicht um gelehrte theologische Erörterungen oder gar Spitzfindigkeiten, sondern um eine Ermahnung des gesamten Gottesvolkes, eine Aufforderung zum Handeln. Dass der Papst dieses Schreiben am 4. Oktober, dem Tag des Heiligen Franziskus, unterschrieb, ist nicht nur ein sinnreiches Zeichen kirchlicher Tradition über die Jahrhunderte, sondern auch eine freundliche Reverenz gegenüber seinem Amtsvorgänger Papst Franziskus, der sich schon mit der Wahl seines Papstnamens in die Tradition jenes großen Heiligen gestellt hatte und auf dessen Vorarbeit dieser Text im Wesentlichen gründet.
Apropos Papstname – Leo XIV. setzte ja ebenfalls mit der Wahl seines Namens ein deutliches Zeichen und knüpfte an jenen großen Papst des 19. Jahrhunderts an, mit dessen Namen (Leo XIII.) die Entstehung der „katholischen Soziallehre“ untrennbar verknüpft ist[2]. Seine Enzyklika „Rerum Novarum“ von 1891 war das erste in einer langen Reihe großer päpstlicher Lehrschreiben zur sozialen Frage, bis in die jüngste Vergangenheit, die alle direkt oder indirekt an diese großartige Enzyklika anknüpften[3].
Christliches Alleinstellungsmerkmal
Nun hat sich die Kirche natürlich immer schon, als erste und oft einzige Kraft in der Gesellschaft, um Arme gekümmert, um Witwen und Waisen, um die Schwächsten und Hilflosen. Die gelebte Nächstenliebe (caritas[4]) ist ein klassisches Alleinstellungsmerkmal des Christentums. Die Kirche steht, getreu der Weisung und dem Vorbild ihres Herren, immer auf der Seite der Armen und Schwachen, tritt ein für Gerechtigkeit und gegen Willkür und Ausbeutung, aber auch gegen jeden Materialismus. Allen gläubigen Christen sind die mahnenden Worte Jesu im Gedächtnis, dass man „nicht Gott und dem Mammon“ (Mt 6, 24)[5] dienen kann, eine Schriftstelle, auf die Papst Leo am 4. Oktober 2025 gegenüber den Pilgern auf dem Petersplatz ausdrücklich Bezug nahm. Kirche ohne Caritas – das kann es nicht geben, und das hat es nie gegeben.
Dennoch war die Formulierung einer besonderen kirchlichen Soziallehre notwendig und das Gebot der Stunde. Auf die große soziale Not, die sich im Gefolge der Industrialisierung ausgebreitet hatte, gab es zunächst keine gesellschaftlich wirksame Antwort – außer dem Marxismus; und zu welchem Elend dieser führte, ist uns allen nur zu gut bekannt. Und wenn sich auch die Soziale Frage aufgrund der massiven technologischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Entwicklungen der letzten Jahrzehnte dramatisch verändert hat, ist die Notwendigkeit einer christlichen Antwort – der eigentlich maßgeblichen Antwort – so offensichtlich wie eh und je.
Kirche als sozialer Notdienst?
Wie aber steht es mit den positiven Errungenschaften in Wirtschaft und Gesellschaft? Wie mit technischem Fortschritt und Wohlstand? Ist die Kirche nur für Schadensbegrenzung zuständig? Oder für die Bändigung eines kalten, materialistischen Gewinnstrebens? Es ist klar, dass die Kirche eine unersetzliche Rolle spielt, wenn es um den Aufbau und Erhalt einer menschenwürdigen Gesellschaft geht. Kann es aber sein, dass die kirchliche Soziallehre, die christliche Nächstenliebe oder gar das Christentum insgesamt am Ende vor allem so eine Art nützlicher Hilfs- und Korrektur-Einrichtung der modernen arbeitsteiligen Gesellschaft sind? Ein solch reduktionistischer und letztlich utilitaristischer Ansatz würde weder dem historischen Befund, noch der Realität der Gegenwart gerecht.
Auch am Beginn des wissenschaftlichen und technologischen Fortschritts der Menschheit stand der Geist des Christentums, das den Menschen aus Aberglauben und Fatalismus befreit[6] und damit zur Entwicklung von Schaffenskraft und Innovation maßgeblich beigetragen hat. Wissenschaft und Technik im heutigen Sinne sind nicht zufällig im Schoße des viel geschmähten „christlichen Abendlandes“ entstanden. Dass alles Forschen und Wirtschaften dabei in christlicher Verantwortung erfolgen sollte, versteht sich von selbst.
Der biblische Auftrag an die Menschen, sich „die Welt untertan“ zu machen (Gen 1, 28) würde zudem völlig missverstanden, wenn er als Startschuss oder Motiv für hemmungslose Ausbeutung gedeutet würde[7], ein irreführender religionskritischer Ansatz, der zeitweise sogar innerhalb der Kirche Anhänger gefunden und zu oft pauschaler Kritik verleitet hat.
Ebenso scharf ist die gewissermaßen entgegengesetzte Kritik am Christentum, wie sie besonders pointiert von Friedrich Nietzsche formuliert wurde. Für ihn war die Bevorzugung der Armen und Benachteiligten eine verachtenswerte Fehlentwicklung, weshalb er das Christentum als „Sklavenmoral“ verspottete. Nicht die Schwachen und Abgehängten sollten nach seiner noch heute erstaunlich verbreiteten Sicht im Mittelpunkt stehen, sondern die Starken, Wirkmächtigen, Tatkräftigen.
Max Weber und der Geist des Kapitalismus
Mit eben diesen Tatkräftigen und Erfolgreichen befasst sich noch eine andere Weltsicht, die bei einer extremen Ausprägung des reformatorischen, vor allem calvinistischen Christentums ansetzt. Der strengen, geradezu asketischen Lebensführung und strikten Arbeitsmoral des Calvinismus wird dabei zugeschrieben, jenen Geist erzeugt und ermächtigt zu haben, der zur Grundlage des modernen Wirtschaftens der „kapitalistischen“ Gesellschaften geworden sei. Große Wirkung wird dabei auch der radikalen Prädestinationslehre[8] zugeschrieben, die – vereinfacht ausgedrückt – davon ausgeht, dass der Einzelne durch fleißiges und rastloses Tun und Arbeiten herausfinden kann, ob er von Gott erwählt oder verworfen ist. Beruflicher Erfolg wird dabei als Indiz für eine positive Erwählung gewertet[9], Misserfolg hingegen als böses Omen.
In seiner berühmten Schrift „Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus“ (1904 / 05) hat Max Weber diese besondere Form „protestantischer Arbeitsethik“ betrachtet und ihre Bedeutung für den Erfolg des Kapitalismus erörtert. In vulgarisierter Form wurde aus der komplexen These Webers die schlichte Schlussfolgerung, dass Protestanten die besseren Unternehmer seien, was durch den wirtschaftlichen Erfolg protestantischer Länder in Nord- und Mitteleuropa – und natürlich der USA – gegenüber den „weniger erfolgreichen“ im katholischen Südeuropa belegt zu werden schien.
An dieser vulgarisierenden Max-Weber-Rezeption war so gut wie nichts zutreffend; das war sozusagen ein Fall von „Fake Science“, avant la lettre. Es reicht ein Blick in die Geschichte, um zu erkennen, dass „moderne“ Formen des Wirtschaftens, auch der Finanzwirtschaft, lange vor Entstehung des Calvinismus europaweit Wirkung entfaltet haben. Ein dramatischer wirtschaftlicher und kommerzieller Aufschwung Europas begann schon im katholischen Hochmittelalter und in der frühen Neuzeit. Moderne Formen der Geldwirtschaft wurden in den aufstrebenden Städten Norditaliens und in Flandern entwickelt, lange vor der Reformation oder gar der Aufklärung.
„Christlicher Sozialismus“ oder Lob der Marktwirtschaft?
In dem Lehrschreiben „Dilexi te“ finden sich Passagen, welche – aus dem Zusammenhang gerissen – an die Tradition der sog. „Theologie der Befreiung“ erinnern (natürlich ohne die häretischen, marxistisch beeinflussten Elemente). Dazu gehört die bekannte Rede von Papst Franziskus’ von einer „Wirtschaft die tötet“ und einzelne Formulierungen, in denen von „struktureller“ Ungerechtigkeit und den Grenzen der Marktkräfte die Rede ist. Aus dem Gesamtzusammenhang des Lehrschreibens geht andererseits deutlich hervor, dass sich jede sozialistische Vereinnahmung dieser Passagen von selbst verbietet; denn die Wertung des rechten und gerechten Wirtschaftens, insbesondere die Betonung der sozialen Funktion des Eigentums, gründet im Konzilsdokument „Gaudium et spes“.
Papst Leo XIV. hat kurz vor der Veröffentlichung des Lehrschreibens deutlich seine Hochachtung gegenüber den „Gründungsvätern“ der europäischen Integration zum Ausdruck gebracht[10]; dabei nannte er namentlich Robert Schumann, Konrad Adenauer und Alcide De Gasperi. Diese Namen stehen für die christlichen Grundlagen Europas, aber zugleich auch für eine Wirtschaftsform, in der Freiheit und soziale Verantwortung gleichermaßen betont werden. Dafür hat sich im deutschen Sprachraum der Begriff „soziale Marktwirtschaft“[11] eingebürgert.
(Fortsetzung folgt)
[1]Apostolische Exhortation „Dilexi te“ vom 4. Oktober 2025: https://www.vatican.va/content/leo-xiv/de/apost_exhortations/documents/20251004-dilexi-te.html
[2]Hinzu kommen allerdings weitere Anknüpfungspunkte, wie zum Beispiel die Festigung der kirchlichen Lehre unter Leo XIII. (z.B. durch die Enzyklika „Aeterni patris“ von 1879).
[3]Vgl. besonders die auch von Papst Leo hervorgehobene Enzyklika von Benedikt XVI. „Caritas in Veritate“: https://www.vatican.va/content/benedict-xvi/de/encyclicals/documents/hf_ben-xvi_enc_20090629_caritas-in-veritate.html
[4]Vgl. a. https://erziehungstrends.info/theologische-tugenden-liebe-caritas
[5]Vgl. hierzu auch die drei Beiträge „Die Bibel und das liebe Geld“: https://erziehungstrends.info/die-bibel-und-das-liebe-geld
[6]Vgl. z.B. https://erziehungstrends.info/kirche-und-wissenschaft
[7]Dieser Vorwurf wird dem Christentum von einer ideologisch abgehobenen und radikalisierten Ökologiebewegung gemacht, in völliger Unkenntnis der geistesgeschichtlichen und theologischen Grundlagen. Aus dem biblischen Kontext geht deutlich hervor, dass es um eine positive Sicht der menschlichen Arbeit und Verantwortung geht und gerade nicht um „Ausbeutung“ oder Raubbau.
[8]Die Auffassung, Gott habe manche Menschen zur Erlösung, andere zur Verdammnis vorherbestimmt. Eine aus Sicht der Katholischen Kirche inakzeptable und häretische Auffassung.
[9]Manche Sekten nutzen das noch heute – mit nicht geringem Erfolg als „Geschäftsmodell“, besonders in Lateinamerika und Afrika. Sie hinterlassen dabei nicht selten unglückliche Menschen, die oft enttäuscht und dem christlichen Glauben nachhaltig entfremdet werden.
[10]Bei einer Audienz für eine Delegation des Europäischen Parlaments am 30. September 2025. Vgl.: https://de.catholicnewsagency.com/news/21547/papst-leo-xiv-eu-braucht-christen-die-gesunden-sakularismus-leben
[11]Auf Französisch auch „Capitalisme rhénan“ („rheinischer Kapitalismus“).
