Niemand kann Lügner leiden. Lügen sind etwas Schlechtes, mit Ausnahme von echten Notlügen vielleicht. Aber Leute, die penetrant darauf bestehen, immer nur die ganze Wahrheit zu sagen, sind uns auch ein wenig unangenehm. Das ist doch nicht normal…

Wenn wir uns einmal selbst genau prüfen, dann stellen wir zumeist fest, dass wir „notgedrungen“ gelegentlich eher sparsam oder „kreativ“ mit der Wahrheit umgehen, manche Sachverhalte zumindest nicht ganz vollständig oder nur mit einem gewissen „Framing“ darstellen. Das ist doch nur natürlich und manchmal auch nötig, um Schlimmeres zu verhüten oder Andere zu schützen. Und außerdem: wer kennt schon immer „die ganze Wahrheit“. Da gibt es stets verschiedene Aspekte und Sichtweisen etc.

Das Zeitalter des Pilatus

Und damit sind wir schon bei der unvermeidlichen und unsterblichen Pilatus-Frage[1]: „Was ist Wahrheit?“ Das war nicht die Frage eines Suchenden, sondern die eines Zweiflers. Damit ist der römische Statthalter aus dem ersten Jahrhundert auch heute ganz und gar auf der Höhe der Zeit. Denn was damals Jesus zu hören bekam, das schallt heute noch seinen Jüngern entgegen: was ist schon Wahrheit…? In unserer von Relativismus, Skeptizismus und Dekonstruktivismus geprägten Zeit will man nichts von „absoluten Wahrheitsansprüchen“ wissen. Es gilt als Opinio communis: Jeder hat irgendwie seine eigene Wahrheit, niemand kann sagen, dass die seine oder ihre besser sei als die des oder der Nächsten… Interessanterweise wollen aber nur die Wenigsten so weit gehen, sich das Sokrates zugeschriebene Diktum ernsthaft zu eigen zu machen: „ich weiß, dass ich nichts weiß“. Denn an unseren Meinungen halten wir immer schön fest.

Wir leben heute erst so richtig im „pilatischen Zeitalter“, mehr noch als damals Pontius Pilatus selbst. Irgendwie ist uns der Mann sympathisch, mit seiner lässig abwehrenden Haltung gegenüber „der Wahrheit“. Diese Attitüde ist heute ungemein beliebt und geradezu „cool“. Man sagt das gerne so dahin: „eine absolute Wahrheit gibt es doch nicht“. Damit erntet man fast immer gedankenvolles Kopfnicken und fühlt sich auf der sicheren Seite[2]. Diese Haltung bestimmt nicht nur unsere Alltagswirklichkeit, sondern sie beeinflusst auch den Umgang mit „unseren Werten“. Sie hat schon vor langer Zeit sogar die Universitäts-Theologie in Deutschland erobert. Pontius P. könnte stolz sein…

Und die Fake News?

Und doch haben wir gleich wieder ein Wahrheits-Problem. Denn so sehr wir auch immer davon ausgehen, dass es keine absolute Wahrheit gibt, macht uns doch das Phänomen der Fake News, der „Meinungsblasen“ und der Verschwörungstheorien zu schaffen. Da kommt es dann plötzlich doch wieder auf die Wahrheit an. Hinzu kommt, dass es zunehmend wieder gesellschaftlich und sogar schon staatlich verordnete Denk-Gebote und Verbote gibt, die uns zwingen wollen, offensichtlich Unsinniges nicht nur zu glauben, sondern uns dazu öffentlich immer wieder zu bekennen[3]. Etwas, das wir glaubten überwunden zu haben und schlimmstenfalls in Diktaturen vermuteten. Man denkt unwillkürlich an das Märchen von des Kaisers neuen Kleidern. Wahrheit kann höchst unwillkommen sein und geradezu subversiv wirken. Aber fragen wir uns erst einmal: Worum geht es eigentlich, wenn wir im vollen Ernst von Wahrheit und Wahrhaftigkeit sprechen?

Worum es eigentlich geht

Ehrlichkeit, Wahrhaftigkeit, Aufrichtigkeit, Liebe zur Wahrheit – diese Begriffe umschreiben unter verschiedenen Aspekten eine Tugend, die grundsätzlich wohl in allen Kulturen und Zivilisationen Zustimmung findet. Die früheste bekannte Kodifizierung dürfte im Dekalog[4] zu finden sein; und von den zehn Geboten sind nicht nur die jüdisch-christliche Tradition, das Abendland bzw. die „westliche“ Zivilisation geprägt, sie haben längst universelle Gültigkeit erlangt, wenn auch vermittelt und ohne dass es den Menschen immer bewusst wäre.

Der Dekalog als kleinster gemeinsamer Nenner?

Das achte Gebot[5], wie es im Alten Testament überliefert ist (Ex 20,16), klingt nach alter Rechtssprache: „Du sollst nicht falsch gegen deinen Nächsten aussagen“. Das ist dem Kontext der göttlichen Rechtssetzung für das Volk Israel geschuldet. Aber so eindeutig das über die Jahrhunderte hinweg und über Israel hinaus für alle Völker und Kulturen als gültig akzeptiert wurde, so selbstverständlich galt auch immer schon das daraus folgende, erweiterte Verständnis, dass jede andere Form der Lüge und Unaufrichtigkeit ebenfalls zu verurteilen ist, nicht etwa nur die Falschaussage vor Gericht. Das achte Gebot ist auch nicht einfach als ein „kleinster gemeinsamer Nenner“ anzusehen, sondern vielmehr die rechtsförmige Gestalt einer Tugend, die der unverdorbenen menschlichen Natur gemäß ist.

Charakterliche Tugend

So formuliert auch Aristoteles ganz selbstverständlich: „Nun ist die Lüge an sich schlecht und tadelnswert und die Wahrheit gut und lobenswert“[6]. Und er fügt hinzu, dass gerade jener Mensch zu loben sei, der auch dann, wenn es nicht um Verträge oder andere Rechtsgeschäfte geht, „wahrhaft“ ist und „in Rede und Leben bei der Wahrheit bleibt, weil er habituell so ist“[7]. Wahrhaftigkeit bedeutet eben, dass man die Wahrheit sagt, nicht nur aus bestimmtem Anlass oder gar Kalkül, sondern immer, und zwar „so, dass eine dauernde Haltung daraus wird“[8].

Keine Tugend steht allein

Es ist eine grundlegende philosophische Einsicht, dass Tugenden mit einander verbunden sind und keine ganz allein steht; und da die Klugheit[9] seit jeher eine Vorrangstellung unter den sog. „Kardinaltugenden“ einnimmt, müssen wir sie selbstverständlich auch hinzuziehen, wenn es um die Definition der Wahrhaftigkeit geht. Das ist nicht so zu verstehen, dass wir die Wahrheit instrumentell, trickreich und selektiv einsetzen sollten. Es geht vielmehr darum, zu beachten, was wir mit unserer Rede bewirken: „Die Wahrheit wird nicht in den leeren Raum gesprochen; daher muß der Sprechende auch fühlen, was sie drüben wirkt“[10]. Mit anderen Worten: Wahrheitsliebe gebietet uns keineswegs, dass wir immer und überall unüberlegt alles auszusprechen hätten was wir wissen und für wahr halten.

Es ist eine Frage der Klugheit und auch der Menschlichkeit, dass wir nicht einem Kranken vor der Operation bis ins kleinste Detail erzählen, was alles schief gehen kann, und was in ähnlichem Fall schon mal schiefgegangen ist. Ebenso werden wir einen Prüfling fairerweise nicht mit der Nase auf sämtliche Möglichkeiten des Scheiterns stoßen, sondern ihm möglichst Mut machen und für ihn gute (wahre) Beispiele dafür anzuführen versuchen. Das ist nicht unaufrichtig, sondern klug und menschlich.

Caritas in veritate

Auch eine „göttliche“ oder „theologische“ Tugend kommt zum Tragen, wenn Wahrheit nicht verletzend oder grausam werden soll: die Liebe, vor allem als „caritas“, aber auch „amicitia“[11]. Und das gilt nicht nur im zwischenmenschlichen Bereich, im privaten Leben, sondern ebenso im sozialen Gefüge, in Wirtschaft und Gesellschaft, weshalb Papst Benedikt XVI. seiner großen Sozial-Enzyklika den sprechenden Titel „Caritas in veritate“ (die Liebe in der Wahrheit) gab. Wahrheit wird letztlich nur in gutem Sinne wirksam, wenn sie mit Liebe gesprochen wird[12]. Die „ganze Wahrheit“ ist nicht nur informativ, sondern im besten Sinne auch performativ, indem sie Gutes bewirkt.

In diesem Zusammenhang werden auch jene Worte Jesu lebendig, die uns im Johannes-Evangelium überliefert sind, die aber oft nicht recht verstanden, oder sogar als „zu schwierig“ übergangen und nur oberflächlich behandelt werden: Dass Jesus selbst „die Wahrheit“ ist. Er ist der menschgewordene göttliche „Logos“[13] und als solcher nicht etwa nur symbolisch oder in allegorischer Weise „die Wahrheit“, sondern die volle und endgültige Offenbarung Gottes, die letztgültige und vollständige Manifestation der Wahrheit. Christus zu folgen heißt auch: ihm mehr und mehr – im Rahmen unserer menschlichen Möglichkeiten – ähnlich zu werden („Imitatio Christi“). Auf diesem Wege werden wir zu wirklich wahrhaftigen Menschen[14].

Intellektuelle Redlichkeit

Wahrheitsliebe muss habituell werden, quasi zum Teil des Charakters einer Person. Das ist auch die Grundlage der intellektuellen Redlichkeit, die leider in unseren Gesellschaften nur noch sehr wenig ausgeprägt ist. Stattdessen werden in den Medien und im öffentlichen Diskurs, gelegentlich sogar in der Wissenschaft, immer häufiger sog. „Straw Man Arguments“ aufgebaut, also von vorneherein (ab-) wertend formulierte, verkürzte Darstellungen der Meinung Anderer. Man baut also gewissermaßen einen „Strohmann“ auf, den man dann schnell argumentativ stürzen kann. Das ist eigentlich eine Form der Unwahrhaftigkeit. Intellektuell redlich wäre das Gegenteil (“Steel Man Argument“): die Gegenmeinung erst einmal fair und vollständig darzustellen und dann die eigenen Argumente ins Feld zu führen[15].

Die Vergiftung des öffentlichen Diskurses in Politik und Gesellschaft rührt zumindest teilweise daher, dass die ehrliche Auseinandersetzung gescheut wird, Argumente gar nicht angehört werden und nur die Zustimmung der eigenen Anhänger gesucht wird. Zu weit ist auch eine unterschwellige „Hermeneutik des Verdachtes“[16] verbreitet: Den Anderen geht es gar nicht um die Sache; die tun nur so. Also müssen wir deren Argumente nicht ernst nehmen.

Nur auf der Grundlage intellektueller Redlichkeit können wir diesen stets schwelenden Verdacht aus den zwischenmenschlichen Beziehungen verbannen, dass die Anderen uns doch nur über den Tisch ziehen wollen. Viel zu oft gehen wir (leider nicht immer grundlos) davon aus, dass das Gesagte und das Gewollte nicht wirklich (oder jedenfalls nur teilweise) übereinstimmen. So gedeihen Verdacht, Misstrauen, Feindschaft und Verwirrung.

Erziehung zur Wahrheitsliebe

Erziehung zur Wahrheitsliebe beginnt im Elternhaus oder sie ist zum Scheitern verurteilt. Schon kleine Kinder haben einen sechsten Sinn dafür, ob ihre Eltern die Wahrheit sagen oder nicht. Das eigentlich Wunderbare dabei ist aber, dass sie unterbewusst sehr fein unterscheiden können, was Schutzverhalten elterlicher Liebe ist und was Täuschung oder Irreführung. Sagen Mutter oder Vater z.B. in einer existenziell bedrohlichen Situation etwas, das ihr Kind beruhigen soll, dann kommt das beim Kind richtig an, selbst wenn es sieht, dass seine Eltern die Situation – zum Beispiel bei einer schlimmen Erkrankung oder nach einem schweren Unfall – nicht wirklich unter Kontrolle haben.

Auch werden Heranwachsende ihre Eltern kaum verurteilen, weil sie ihnen im Kleinkindalter Märchen erzählt oder vom Besuch des Nikolaus oder des Christkindes gesprochen haben. Versuchen die Eltern aber, aus egoistischen Motiven das Kind zu täuschen oder hinters Licht zu führen, zum Beispiel um sich etwas Lästiges vom Hals zu schaffen, oder eigenes Fehlverhalten zu vertuschen, dann wird dadurch sehr schnell und nachhaltig das kindliche Urvertrauen beschädigt. Das entscheidende und unterscheidende Merkmal ist jeweils die Liebe. Wir haben gesehen, dass die Wahrheit nur lebendig wird, wenn die Liebe hinzukommt[17]. Ebenso gilt aber auch, dass die Liebe nur Bestand hat, wenn sie mit Wahrhaftigkeit einher geht.


[1]Joh. 18, 38.

[2]Solange wir nicht in existenzielle Not geraten…

[3]Zu denken ist z.B. an bestimmte Auswüchse der Trans-Ideologie.

[4]Vgl. dazu: Katechismus der Katholischen Kirche. Dritter Teil, zweiter Abschnitt, Nr. 2052 ff.

[5]Ebd. Nr. 2464 ff.

[6]Nikomachische Ethik, IV. Buch, Nr. 13.

[7]Ebd. An dieser Stelle geht es um eine charakterliche Tugend, die Mitte zwischen Prahlerei/ Übertreibung und Ironie/ Verstellung.

[8]Romano Guardini: Tugenden. Meditationen über Gestalten sittlichen Lebens. Paderborn 1987. S. 21.

[9]Vgl. https://erziehungstrends.info/kardinaltugenden-klugheit

[10]Guardini, a.a.O. S. 22

[11]Vgl. https://erziehungstrends.info/theologische-tugenden-liebe-caritas

[12]Vgl. Guardini a.a.O. S. 22.

[13]Griechisch λόγος, eigentlich das Wort. Jesus ist in diesem Sinne das Mensch gewordene Wort Gottes. Wir dürfen dabei natürlich nicht nur an Kommunikation im engeren, sprachlichen Sinne denken. Die nächste Parallele ist das schöpferische Wort Gottes in der Genesis.

[14]Damit ist auch klar, dass es unter gläubigen Jüngern Jesu keiner Eide etc. bedarf, was vor dem Hintergrund von Jesu Ablehnung des Schwörens (Mt. 5, 33-37 „…Euer Ja sei ein Ja, euer Nein ein Nein; alles andere stammt vom Bösen“) zu beachten ist.

[15]Ein großer Meister dieser Tugend war Joseph Ratzinger / Benedikt XVI., der die Gegenmeinungen in seinen Werken ehrlich und unverfälscht darlegte, oft besser als im Original. Erst danach brachte er seine Gegenargumente vor.

[16]Benedikt XVI. bezeichnete mit diesem Ausdruck sehr treffend eine Grundhaltung in der theologischen Zunft, die grundlos immer voraussetzt, dass Schrift und Tradition von Täuschern und Tricksern dominiert seien, die eigentlich etwas anderes wollten, als sie vorgaben (meistens angeblich „Macht“).

[17]Guardini, a.a.O. S.22.