Irgendwie nett, aber nicht echt?
Die meisten von uns sind in einem Umfeld aufgewachsen, in dem Engel zwar als irgendwie sympathisch galten, aber eigentlich nicht als „echte“ Realität; eher etwas für Kinder, vielleicht auch Symbolfiguren, oder bloßer Ausdruck von Anerkennung für hilfreiche Menschen. „Du bist ein Engel!“ sagen wir leichthin, wenn uns jemand in auswegloser Lage geholfen hat oder in einer Lebenskrise zur Seite steht. Und wenn in brenzligen Situationen, besonders wo es um Leib, Leben und Gesundheit geht, etwas gerade „noch einmal gutgegangen“ ist, dann sprechen auch in unserer säkularisierten Gesellschaft noch viele Menschen davon, da habe aber jemand „einen Schutzengel gehabt“.
Es geschieht sogar, dass wir Freunden und Verwandten ein kleines Engelsfigürchen schenken, wenn sie auf eine lange Reise gehen oder umziehen. Es gibt sogar Schutzengel-Aufkleber für Koffer und für das Auto, und vermutlich auch Kühlschrankmagneten. Das alles ist an sich nichts Schlechtes oder Verwerfliches, aber es bleibt doch im Bereich des Oberflächlichen und grenzt manchmal mehr an modernen Aberglauben, mit seinen Glücksbringern, Amuletten und Pseudo-Engelskulten[1], als dass es zuverlässig im christlichen Glauben wurzelte.
Christliche Ikonographie
Viele Menschen lassen sich in ihrer Vorstellung von Engeln, bewusst oder unbewusst, von gängigen Bildern leiten, Bildern, die in unserem kollektiven Unterbewusstsein verankert sind[2]. Darstellungen von Engeln sind in der christlichen Ikonographie immer schon weit verbreitet; sie gehören zu den beliebtesten Darstellungen überhaupt. Dabei gibt es wiederum eine große Bandbreite; sie reicht von echten biblischen Szenen – allen voran der Verkündigung an Maria – bis zum rein Ornamentalen niedlicher kleiner Putten[3], die ganz offensichtlich keinen theologischen Hintergrund haben. Auch manch eine großartige Engelsdarstellung der Kunstgeschichte spricht mehr für die Kreativität und Kunstfertigkeit des Malers oder Bildhauers, als für die dahinter stehende Realität. Aber selbst wenn die Bildsprache der Vergangenheit (bei aller ästhetischer Wertschätzung…) nicht mehr die unsere ist, sollten wir doch nicht das Kind mit dem Bade ausschütten, sondern das Bewusstsein bewahren, dass es um mehr geht, als um Allegorien oder personalisierte Ideen.
Theologisches Desiderat
„Engel sind einfach Boten Gottes“[4]. Das ist eine gängige Formel, mit der viele von uns vertraut sind. Sie wird auch heute noch gern verwendet, wenn eine Stellungnahme zu Engeln unvermeidbar ist, außerhalb und auch innerhalb der Kirche. Dabei handelt es sich sozusagen um einen dilatorischen Formelkompromiss – oder einen kleinsten gemeinsamen Nenner, denn die Aussage als solche ist natürlich richtig, unabhängig davon, ob sie im übertragenen oder im eigentlichen Wortsinne gemeint ist.
So etwas wie eine Engels-Lehre – nicht erst seit Thomas von Aquin[5] ein Thema der christlichen Theologie – ist aber aus den theologischen Fakultäten und aus dem Leben der Kirche in Deutschland und Europa weitgehend verschwunden. Eine seit langem tendenziell rationalistische und reduktionistische Universitätstheologie konnte mit diesem Thema nichts mehr anfangen. Ein namhafter Hochschullehrer hat es einmal mit dem lapidaren Hinweis auf die Flügel[6] der Engel in der Kunst abgetan; Flügel seien aber nun mal „etwas Tierisches“…
Zwischen Un- und Aberglaube
Ernsthafte Exegeten mühen sich immerhin mit allerlei religionsgeschichtlichen Vergleichen zu Geistern und Fabelwesen in diversen vormodernen Kulturen ab, um so das Thema Engel halb historisch-kritisch, halb kunsttheoretisch fassen zu können. Das ist für sich genommen hochinteressant, trägt aber zum theologischen Verständnis der Engel wenig bei. Und wenn man thematisch nur an der Oberfläche verbleibt, wird das Thema am Ende ebenso verfehlt, wie bei jener vulgär-rationalistischen Ironisierung, die so tut, als habe man nur die Wahl zwischen Kinderglauben und Materialismus. Am Ende läuft beides auf die Weigerung hinaus, sich mit einer biblisch bezeugten Realität auseinanderzusetzen. Das ist bedauerlich, und man darf sich nicht wundern, dass dann in Abwesenheit einer klaren Theologie allerlei krude, sektiererische Ideen verbreitet und vermarktet werden[7].
Follow the Creed
Im „großen Glaubensbekenntnis“[8] bekennen wir stets, dass Gott der Schöpfer „der sichtbaren und der unsichtbaren Welt“ ist, wobei letzteres die Engel als geistige, körperlose Wesen einbezieht[9]. Die Kirche hat es aus gutem Grund vermieden, allzu wissbegierig ins Detail zu gehen. Der Kirchenvater Augustinus drückt das Wesentliche treffend aus: „Engel bezeichnet das Amt, nicht die Natur. Fragst du nach seiner Natur, so ist er ein Geist; fragst du nach dem Amt, so ist er ein Engel“ [10]. Das biblische Zeugnis, das ja auch im Glaubensbekenntnis Ausdruck findet, ist jedenfalls deutlich genug, vom persönlichen, quasi privaten Bereich, bis zur kosmischen Endzeitvision.
Engel, ganz persönlich
In einer wunderbaren Perikope des Neuen Testaments spricht Jesus ganz offensichtlich über die Schutzengel[11]. Als Reaktion auf einen Rangstreit unter den Jüngern stellt er ein Kind in ihre Mitte, um zu zeigen, wie der Weg ins Himmelreich zum Ziel führt: nur in kindlichem Vertrauen auf Gott, unmittelbar, ohne Selbstsucht und Hintergedanken. Aus der milden Ermahnung wird dann schnell ein ernstes Gerichtswort, wenn Jesus eindringlich davor warnt, diese Kleinen zu verachten oder ihnen Böses anzutun, denn „ihre Engel im Himmel sehen stets das Angesicht des Vaters“ (Mt. 18, 10).
Daran erkennen wir nicht nur, dass „Schutzengel“ für Jesus etwas ganz Selbstverständliches sind; wir verstehen auch, wie weit ihr Wirken reicht. Sie helfen dem Einzelnen im Alltag, in großen und kleinen Dingen (wenn man es denn zulässt…); sie sind aber auch Fürsprecher bei Gott, dem Vater, so dass keine Untat ungesühnt, kein Missbrauch ungestraft bleibt. Mit anderen Worten: selbst wenn sie eine böse Tat nicht verhindern können, vertreten sie doch das Recht der Schwachen und Wehrlosen, denen in jedem Fall Genugtuung zuteil werden wird.
Was Frau Rhode erlebte
Jesu selbstverständlicher Umgang mit dem Wirken der Engel hat sich natürlich auch auf die ersten Christengemeinden übertragen. Ein sehr eindrückliches Beispiel dafür findet sich in der Apostelgeschichte (Apg 12, 6 ff), die im Detail berichtet: Nach seiner wunderbaren Befreiung aus der Haft erscheint Petrus zu nächtlicher Stunde vor einem Haus, in dem die Jünger versammelt sind und begehrt Einlass. Eine Magd, deren Name sogar überliefert ist (Rhode), hört ihn rufen und kann es kaum glauben. Statt zu öffnen läuft sie zurück und berichtet den Jüngern: Draußen steht Petrus! Die könne es auch nicht glauben und sagen: „Es ist sein Engel“. Wenn es auch unmöglich ist, dass ein Mann aus dem tiefsten Kerker ausbricht, kann es doch sein, dass sein Engel vor der Tür steht…
Engel, äußerst streitbar
An vielen Stellen des Alten und Neuen Testaments, wie in der Sprache der Liturgie, ist natürlich auch von den „himmlischen Heerscharen“ die Rede, also von Engeln, die gewissermaßen in kosmischem Maßstab wirken und auf höchst greifbare Weise die Macht Gottvaters, des Schöpfers und Richters repräsentieren[12]. Wiederum ist ein direktes Jesus-Wort die beste Richtschnur zum Verständnis, ein Wort gesprochen in der ungeheuren Zuspitzung der Passionsereignisse am Ölberg. Im Zuge der Verhaftung Jesu weist er den bewaffneten Widerstand eines der Jünger mit den Worten zurück: „…glaubst du nicht, mein Vater würde mir sogleich mehr als zwölf Legionen Engel schicken, wenn ich ihn darum bitte?“ (Mt 26, 53). Das klingt nicht harmlos und nicht niedlich; wir ahnen vielmehr die ganze Realität und Reinheit göttlicher Macht.
Im Leben der Kirche erfahren traditionell die „Erzengel“ besondere Verehrung. Ihre althebräischen Namen[13] sind sprechend und zeigen auf, in welcher Weise Gott durch sie wirkt. So bedeutet zum Beispiel Michael „Wer ist wie Gott?“, Gabriel (der Verkündigungsengel, vgl. Lk 1, 26 ff) dagegen „Macht Gottes“, Rafael wiederum „Gott heilt“. Gerade bei letzterem zeigt sich zugleich, dass die Übergänge fließend sein können; Rafael begegnet uns im Buch Tobit als Begleiter und Schutzengel des Tobias.[14]
Angelus
Alle Engel sind Diener Gottes, keinesfalls unheimliche Geister oder gar kleine Gottheiten. Ihre Verehrung unterscheidet sich deshalb nicht nur graduell, sondern prinzipiell dem, was uns in animistischen Kulten und modernen Sekten begegnet. Alles an und in ihnen ist auf ihren Dienst bezogen, und so gilt ihre Verehrung zutiefst immer dem dreieinigen Gott. Ein wunderbares Gebet der Kirche zeigt das in reiner Form: das Angelus-Gebet[15] („der Engel des Herrn“). Es wird seit jeher vor allem um zwölf Uhr mittags gebetet und stellt uns die Verkündigung an Maria vor Augen: Der Engel des Herrn verkündete Maria die Botschaft…
Da steckt wirklich alles drin: Es ist ein zugleich marianisches und zutiefst christologisches Gebet, es spiegelt das Geheimnis der Trinität und öffnet den Blick auch auf die Rolle der Engel. Wer sich Gedanken macht über die Bedeutung der Engel, über den Umgang mit seinem Schutzengel und darüber, was das alles heute bedeuten mag, dem sei das Angelus-Gebet als tägliche „praxis pietatis“ empfohlen. Es enthält im Kern, so ganz nebenbei, eigentlich auch alles, was man über das Wesen der Engel wirklich wissen muss.
Engelschöre im Mosaik des Baptisterium San Giovanni.
[1]Solche gab es schon in urchristlicher Zeit; Paulus warnt in Kol 2, 18 vor derartigen Irrlehren. Vgl. a. RGG 3. Aufl. , Bd. 2, 465.
[2]Das gilt zumindest für den Einzugsbereich des „christlichen Abendlandes“ i.w.S. Andere Kulturkreise kennen völlig andere Darstellungen. Die süßen Engelchen fehlen dort, und figürliche / bildhafte Darstellungen von Geistwesen sind in der Regel furchterregend. Das sagt an sich auch schon etwas aus (ist aber ein anderes Thema).
[3]Dabei ist der absolute „Klassiker“ das berühmte Marienbild „Sixtinische Madonna“ von Raffael, mit seinen niedlichen Putten am unteren Bildrand, die – im umgangssprachlichen Wortsinne – längst „ikonisch“ (iconic) geworden sind.
[4]Das Wort „Engel“ geht zurück auf den altgriechischen Ausdruck ἄγγελος (Angelos), „Bote“, speziell „Gottesbote“ (vgl. a. Walter Bauer: Griechisch-deutsches Wörterbuch zu den Schriften des Neuen Testaments und der übrigen urchristlichen Literatur. 5. Aufl. Berlin/New York 1971).
[5]Summa theologica I quaestiones 50 ff. und 106 ff. Der Hl. Thomas gilt auch bei diesem Thema zu Recht als der herausragende Theologe schlechthin.
[6]Wobei die frühesten christlichen Engelsdarstellungen flügellos sind. Vgl. RGG a.a.O. 466. Unabhängig davon ist es in puncto intellektuelle Redlichkeit recht fragwürdig, so zu tun, als nehme man eine kreativ-künstlerische Darstellung zum deskriptiven Nennwert.
[7]Zwischen Wellness-Kult und New Age-Sekte; vgl. a. Anmerkung 1.
[8]Von Nikäa/Konstantinopel, vgl. z.B. Geborgen in Gott. Tag- und Nachtgebete. 4. Aufl., Köln 1995, S. 45.
[9]Vgl. Katechismus der Katholischen Kirche, Nr. 328-336.
[10]Ebd. Nr. 329.
[11]Vgl. dazu auch: Katechismus der Katholischen Kirche Nr. 336. Ebenso auch die schöne Meditation in: Arquer, Josef. Meditationen für jeden Tag. Bd. 11. Herren- und Heiligenfeste II. Köln 1999. S. 273-282 (zum Schutzengelfest am 2. Oktober).
[12]Im AT werden Cherubim und Seraphim erwähnt, letztere besonders eindrucksvoll in der Berufungsvision des Propheten Jesaja (Jes 6).
[13]Es sind eigentlich Titel. Sie gehen auf „-el“ aus, worin der Gottesname El/Elohim enthalten ist.
[14]Vgl. zu den Erzengeln: Arquer, a.a.O. S.252 ff (zum Erzengelfest am 29. September).
[15]Vgl. zum Beispiel in: Geborgen in Gott. Tag- und Nachtgebete. 4. Aufl. Köln 1984. S. 92 und S. 105 ff.
